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Meine Trauer geht - und du bleibst

Titel: Meine Trauer geht - und du bleibst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Kachler
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erreichbar ist. Die Sehnsucht will den geliebten, abwesenden Menschen bei sich haben. Sie gibt nie die Hoffnung auf, den Abwesenden doch noch in die Arme zu schließen. Die Sehnsucht in der Trauer gibt uns die Kraft, immer wieder an den sicheren Ort des geliebten Menschen zu gehen und ihm dort zu begegnen. Die innere Begegnung stillt unsere Sehnsucht zu einem guten Teil, doch bleibt immer etwas unerfüllt, nämlich der Wunsch nach einer leiblich und sinnlich spürbaren Begegnung und Berührung. Die Sehnsucht als Form der Liebe ist die Kraft, die uns den geliebten Menschen immer wieder suchen und finden lässt. Das Sehnen verliert zwar sein schmerzliches Drängen, aber auch nach langer Zeit bleibt uns das Sehnen erhalten. Wir erleben das Sehnen als immer wieder aufbrechende innere Bewegung hin zum geliebten Menschen. Und wir sollten die Sehnsucht auch nicht unterbinden, sondern sie offen halten mit dem Wissen, dass das Sehnen schlussendlich nur so gestillt werden kann, dass wir den geliebten Menschen eines Tages tatsächlich wieder in den Armen halten werden.
Ich bin offen für deine Anwesenheit – auch wenn ich dann deine Abwesenheit spüre
    Die Erfahrung der Abwesenheit ruft die innere Anwesenheit des geliebten Menschen wach. Abwesenheit und Anwesenheit sind in der Trauer eng verschränkte Erfahrungen. Wir können die Abwesenheit des geliebten Menschen gar nicht erfahren, wenn wir nicht zugleich an ihn denken. Wer sich als Hinterbliebener oder Hinterbliebene auf die Abwesenheit einlässt und zugleich offen bleibt für die Anwesenheit des geliebten Menschen, wird diese auch erleben.
    Unser Gehirn hat nicht die Fähigkeit, das Fehlen, dieAbwesenheit und das Nicht-Sein des geliebten Menschen zu denken. Auch beim »Phantomschmerz« fehlt das amputierte Glied real und ist als solches auch nicht mehr zu berühren. Trotzdem erleben wir es im Schmerz so real, als wäre es tatsächlich vorhanden. Vermutlich bleiben die Hirnstrukturen, die den amputierten Körperteil repräsentieren, erhalten. Der Schmerz entsteht nun nicht mehr im fehlenden Körperteil, sondern in den es repräsentierenden Hirnregionen. Auch der Verstorbene bleibt in unserem Gehirn unauslöschlich eingeprägt. Seine Abwesenheit lässt in unserem Hirn nun nicht nur den Trauerschmerz entstehen, sondern immer auch das damit verbundene Bild von ihm.
    Unsere Seele bleibt auch nach langer Zeit, oft für immer, für solche Abwesenheitserfahrungen, die die Anwesenheit wachrufen, sensibel. Es genügt eine Berührung an der Stelle, an der uns der geliebte Mensch fehlt, schon ist er in uns präsent. Zugleich aber ist unsere Seele nicht nur offen, sondern geradezu begierig, Anwesenheitssignale aufzunehmen, um ihn dann in uns als Gestalt, als Person und Gegenüber entstehen zu lassen.
Und immer wieder begegnen wir uns – leise zwar, aber berührend
    Unsere Offenheit für die Anwesenheit des geliebten Menschen lässt uns wachsam bleiben für Begegnungen mit ihm. Das wird nun nicht mehr so häufig und emotional aufwühlend geschehen wie in der Anfangszeit der Trauer, sondern ganz fein und immer wieder überraschend. Gerade in solchen Momenten berührt uns unser geliebter Mensch, begegnet er uns in einer unscheinbaren Erfahrung oder entdecken wir ihn unerwartet in unserem Alltag. Ich sehe ein scheinbar lange vergessenes Erinnerungsstück, ich höre irgendwo den Namen meines geliebten Menschen oder sehe im Fernsehen ein Ereignis aus der Zeit, als mein geliebter Mensch starb. Vielleicht fällt uns zwischen den Büchern ein Notizzettel von unserem geliebten Menschen entgegen, vielleicht bringt ein Schmetterling einen Gruß von ihm, vielleicht sind wir plötzlich gerührt oder er steht plötzlich neben uns und lächelt uns freundlich zu.
    Nehmen wir diese Erfahrungen einfach an, nicken unserem geliebten Menschen zu und bedanken uns für die leise und doch innige Begegnung. Jede Anwesenheit ist ein Geschenk, das unsere Beziehung zu unserem geliebten Menschen vertieft und reifen lässt.

    Wenn Sie die Ferne und Abwesenheit Ihres geliebten Menschen spüren, dann lassen Sie diese bewusst zu und sagen zu ihm: »Du bist nicht hier und das ist schmerzlich, auch wenn ich weiß, dass du an deinem sicheren Ort bist und wir uns immer wieder begegnen werden.«
Sind Sie Ihrer Sehnsucht gegenüber dankbar. Sie hält nicht nur die unausfüllbare Leerstelle, die Ihr geliebter Mensch hinterlässt, offen, sondern sie führt Sie immer wieder in nahe Begegnungen mit Ihrem geliebten

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