Meine Trauer geht - und du bleibst
kälter
Dich denken und mich nach dir sehnen
dich sehen wollen
und dich liebhaben
so wie du wirklich bist
Erich Fried
Müssen wir auch den geliebten Menschen gehen lassen? Müssen wir ihn also doch verabschieden? Die Antwort ist eine zweifache: In der äußeren, alltäglich zu lebenden Realität müssen wir den geliebten Menschen verabschieden. In unserer inneren, psychischen Realität bleibt uns der geliebte Mensch nahe. Die beiden Antworten sind miteinander verbunden und verschränkt. Ich kann meinen geliebten Menschen im Äußeren nur gehen lassen, wenn er nicht ins Vergessen oder ins Nichts geht, sondern in meinem liebenden Erinnern aufgehoben ist. Ich kann meinen geliebten Menschen frei lassen, wenn ich weiß, dass es für ihn einen sicheren Ort gibt, an den er gehen wird, und dass er dort bleiben wird. Ich kann meinen geliebten Menschen im Äußeren verabschieden, weil ich weiß, dass er in meinem Inneren unauslöschlich da ist und ich mit ihm diese andere, nämlich innere Beziehung leben kann.
1. Ich lasse dich an deinen sicheren Ort gehen – und ich bleibe hier in meinem Leben
Trauernder: Alle sagen, man soll loslassen.
Trauerbegleiterin: Ja, das sagen immer noch viele. Was löst dieser Anspruch bei Ihnen aus?
Trauernder: Es wehrt sich etwas in mir, und zwar sehr.
Trauerbegleiterin: Ich möchte Sie einladen, jetzt diesem Impuls nachzugeben. Wohin führt er Sie?
Trauernder: Zu meiner Angst, meine Frau ganz zu verlieren.
Trauerbegleiterin: Ganz zu verlieren? Was meinen Sie damit?
Trauernder: Eigentlich kann ich sie doch gar nicht verlieren. Und ich will es auch nicht. Sie ist hier bei mir. (Er legt seine Hand auf seine Brust.)
Trauerbegleiterin: Und hier möchten Sie Ihre Frau bewahren!?
(Trauerbegleiterin legt ihre Hand auf ihre eigene Brust.)
Der Trauernde nickt. Ihm treten Tränen in die Augen.
Trauerbegleiterin: Ja, dann ist diese Stelle hier ein Ort, an dem Sie und Ihre Seele Ihre Frau in sich tragen und halten, obwohl sie in der äußeren Realität nicht mehr da ist.
Ich lasse dich aus dieser Wirklichkeit an deinen Ort gehen – und es fällt mir unendlich schwer
Als Trauernder wünsche ich nichts so sehr, als dass der geliebte Mensch wieder bei mir ist, als dass ich ihn in die Arme nehmen und ihn wieder spüren darf. Doch der Tod hat ihn mir aus den Armen gerissen, weg- und fortgenommen. In meiner konkreten Realität, in der äußeren Wirklichkeit muss ich allmählich realisieren, dass mein geliebter Mensch nicht mehr da ist und auch nicht mehr kommen wird. Abschiednehmen heißt, dass ich dieses Nicht-mehr-Da und Nie-mehr-Kommen als die äußere Realitätanerkennen muss. Ich nenne diesen Teil der Trauerarbeit »Realisierungsarbeit«.
Eine Frau, die ihren Partner verloren hat, träumt: Mein Mann liegt sterbend auf dem Krankenbett. Ich sage zu ihm: »Du darfst nicht sterben.« Der dabeistehende Arzt hat keine Hoffnung mehr. Ich sage noch einmal: »Du darfst nicht sterben. Wir brauchen dich doch hier.« Dann stirbt mein Mann doch.
Diese Frau braucht ihren Mann, nicht nur weil sie ihn liebt, sondern weil er das gemeinsame Leben organisiert und gestaltet. Doch ihr verständlicher Wunsch bleibt ungehört. Die Trauer macht uns schmerzlich bewusst: Ich muss akzeptieren, dass ich den geliebten Menschen zwar herbeiwünschen kann, dass dieser Wunsch aber ungehört bleibt und bleiben wird. Ich muss also der Bewegung des Weggehens zustimmen. Weggehen lassen kann ich nur, wenn ich weiß, wohin ich den geliebten Menschen gehen lassen kann, nämlich an seinen sicheren Ort. Das Weggehenlassen ist unendlich schmerzlich, weil ich dann sein Fehlen hier in der äußeren Realität schmerzlich erleben muss. Das Wissen um den Ziel- und Bestimmungsort dieses Weggehens kann den Schmerz nicht aufwiegen, und doch kann es zunehmend als Trost erlebt werden. Auf unserem Trauerweg wird die tröstliche Wirkung des Wissens um den sicheren Ort zunehmend stärker, der Schmerz um das Weggehen und das Wegsein des geliebten Menschen nimmt langsam ab. Die Erfahrung der inneren Präsenz des geliebten Menschen kann die Erfahrung der realen Ferne und Abwesenheit nicht aufwiegen. Doch wird die Erfahrung der inneren Präsenz immer stärker gegenüber der Erfahrung der Ferne und Abwesenheit.
Loslassen heißt dort lassen – ich lasse dich an deinem Ort da-sein
Was heißt eigentlich »loslassen«? Die in der Trauerliteratur viel beschworene Aufgabe des Loslassens bleibt fast immer unklar, weil die entscheidende Frage nicht
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