Meine Väter
tastete nach seiner Tasche mit dem Reifezeugnis, schüttete ein wenig Wasser aus der Flasche auf seine Hand und rieb sich damit die Augen, trank einen Schluck, benäÃte den Kamm, zog den Scheitel und kämmte das Haar.
Endlich hieà es Wien Westbahnhof.
Schwach vor Hunger und Bauchschmerzen und ohne einen Stadtplan zu besitzen, machte er sich mit seinem Koffer auf den Weg. Er lief und lief, bis es dämmerte, lief sich Ãngste und Zweifel ab, im Herzen einen Triumph, weil er Verantwortung für sein Leben übernahm.
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13. Hauslehrer in Wien
Kurz bevor ich mich nach Wien aufmache, ruft die Witwe meines Vaters, Renate Bronnen, an. Gott zum GruÃe! tönt ihre geschulte Altstimme im melodischen Singsang an mein Ohr, ihre feindselige Abwehr ist geschwunden.â
Bin gerade beim Kofferpacken, es geht nach Ãsterreich. Wenn du willst, mach ich in München Station.
Du kannst mich gern abholen, sage ich, ich fahre nach Wien.
Da komm ich mit, wollte ohnedies ein paar Tage hin, sagt sie. Sie war nie eine Freundin besonderer Umschweife, das kommt mir zupaÃ.
Am nächsten Tag steht sie nach achtstündiger Reise von Berlin nach München vor meiner Tür, auf geht's, sagt sie ungeduldig, bist du bereit? Sie scharrt mit dem Stöckelschuh.
Erst auf der Fahrt weihe ich sie ein, daà ich vorhabe, in Wien dem GroÃvater nachzujagen. Doch der Zwist scheint beigelegt, der gemeinsame Stadtbummel ein unumstöÃliches Faktum, nachtragend ist sie nie gewesen, und neugierig ist sie schlieÃlich auch. AuÃerdem ist sie mit ihren achtundachtzig Jahren vergeÃlich geworden.
Kaum ist sie an meiner Seite, ist der Frühlingstag heiterer, sie schmettert Ernst Buschs Sozialschnulze von der »Sehnsucht nach der Heimat«, der »Heimat des roten Sterns«, zum Fenster hinaus und reibt sich die Hände, als sei sie bereit für meine Taten. Ernst Busch, Ersatzvater für meinen Halbbruder Andreas in der Zeit nach dem Tod meines Vaters. Wien wirkt leicht und fröhlich, als wir unter Renates Gesang »Ami go home« einfahren, platt
vertont von Hanns Eisler, dem Schöpfer der DDR -Hymne und jüdischen Freund Arnolt Bronnens seit seiner Wiener Schulzeit, die Freundschaft mit ihm wurde in Ostberlin erneuert. Bis zu deren Tod machte Renate mit Steffi Eisler die Berliner Theaterpremieren unsicher.
Sie staunt über die vielen Fremden aller Nationen.
»Das verleiht der Stadt einen Hauch k.â&âk.«, meint Renate, geborene Bertalotti mit lombardischen Vorfahren und Tochter eines ungemein feschen k.â&âk. Offiziers.
Wir gehen durch die herausgeputzte Innenstadt, und ich verstehe den GroÃvater gut, der sich verloren vorkam, »wie der Bauernbursch in der Stadt«, in der er die nächsten vier Jahre verbringen würde. Von Auschwitz nach Wien â vom mittelalterlichen Schtetl in eine Stadt des 20. Jahrhunderts. Eine Stadt mit damals über einer Million Einwohnern, in der es von jungen Menschen aller Nationen wimmelte und man alles Fremde aufzunehmen schien: Türken, Araber, Juden, Tschechen, Slowaken, Kroaten, Polen, Russen.
Heute ist das nicht anders.
Insofern war Ferdinand bereits im unwirtlichen Bahnhofsgebiet angenehm überrascht, denn die Vielfalt der Menschen schien ein Versprechen zu sein, daà auch für ihn hier Platz sein würde.
Ich versuche, Renate in die Geschichte Ferdinands mit einzubeziehen. Es muà eine Befreiung gewesen sein, sage ich, die Brücken zu Auschwitz abgebrochen zu haben, wo er verspottet wurde.
Dieses gräÃliche Kaff, Renate stimmt zu, obwohl sie nie dort gewesen ist. Das erinnert mich an Mauthausen, wo ich aufgewachsen bin, damals ein harmloser kleiner Ort, heute einer, um den man einen Bogen macht. Sie lacht.
Ein langer Tag dehnte sich vor ihm aus â ich erzähle weiter. Frei von Verpflichtungen, schlenderte er durch Vorstädte, fror auf Bänken in groÃen Parks und landete endlich am Stephansdom, über dessen im Licht erstrahlender Spitze sich goldene Wolken türmten. Wie hell die Stadt abends war. Eine Lichterstadt. Es kam ihm vor, als käme er aus dem Dunkel.
Hineingefallen in eine neue, freie Welt.
Wien. Ich fahre der Sprache wegen gern hin, jetzt bin ich von einer Könnerin österreichischer Modulationen begleitet. Ich liebe die Stadt jener Wörter wegen, die in Deutschland niemand kennt und die man nie vergiÃt. Wegen der Kellner, die so
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