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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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ziehen, in dem die Mutter schlief, zwischen Kleider- und Wäschekästen, und am Boden die alten Jutefetzen.
    In jene Zeit fällt auch seine erste Begegnung mit Schillers Räubern , die er in Bielsko sah. Bielsko hatte kein eigenes Theater. Die Vorstellung wurde im Zunfthaussaal gegeben, der im Winter meist mit Operetten lockte.
    Das junge Genie, das seinesgleichen entdeckt. Nieder mit dem Vatertyrannen! Nieder mit dem Vatermördersohn! »Hier schwör ich, das Licht des Tages nicht mehr zu grüßen, bis des Vatermörders Blut gegen die Sonne dampft.«
    Steckte nicht hinter der Fassade des gezähmten Schülers und Sohnes tiefer zurückgehaltener Zorn? Kam sie der Wahrheit näher, wenn sie sich Franz Moor zitierte: ›Warum gerade mir die Lappländernase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? Diese Hottentottenaugen?‹
    Dafür hatte der Jude Eliezer sicher ein Ohr.
    Doch die Liebäugelei mit dem Räubertum legte sich schnell. Das war nichts für ihn. Weder wollte er am Rand der Gesellschaft noch in ihrem Untergrund leben, sondern in ihrer Mitte. Er besann sich auf seine Ziele. Mit Rebellentum kam man nicht weit. Schon gar nicht als Jude.
    Â 
    * * *

12. Die Reise
    In der Schule mit ihren Ritualen fühlte er sich wohl: das Eintreten des Lehrers, das Aufstehen der Schüler und ihr gebrüllter Gruß, das Aufrufen der Namen, die Prüfungen und Zensuren – es war die ihm gemäße Lebensform. Gymnasiums- und Studienzeit des Wissensdurstigen sind voll Zuneigung geschildert. Anfangs war der schmächtige Junge mit der ungedämpft lauten Stimme noch erstaunlich verträumt, doch ein wenig Ermunterung, ein bißchen Lob genügten, daß er in Kürze zum Klassenbesten wurde, zur Verwunderung aller.
    Die Schule wurde ab 1877 zum Wichtigsten in seinem Leben, war ihm heilig, dem »Lehrkörper« galt seine Verehrung. Er schien zu wissen, welch ungeheures Privileg es war, in einer Zeit lernen zu dürfen, in der Bildung Luxus war. Außerdem war die Schule Flucht vor der Enge und Armut zu Hause, und er konnte mit seinem Wissen brillieren. Nicht zuletzt: die Räume waren geheizt!
    Bald konnte er mittelhochdeutsche Verse zitieren, den Faust – sein ironisches Lieblingszitat: Das Leere lernen, Leeres lehren –, und Die Räuber beherrschte er ohnedies auswendig. Es kam ihm zugute, daß sein Deutsch vortrefflich war.
    Sie hat das Gefühl, nicht weiterzukommen.
    Wann endlich zeigte sich eine Antwort auf ihre Fragen?
    Die Tatsache, daß sein Vater die Familie sitzengelassen hatte, hatte sich sicher längst in der Klasse herumgesprochen – wieder wurde er zum Außenseiter. Um dies zu kaschieren, gab er sich vielleicht überangepaßt, lachte prompt, wenn der Lehrer einen Witz machte, und spaßte viel. Er schielte nach Normalität.
    Das sich selbst auferlegte Schweigegebot über seine Herkunft verlieh ihm etwas Ungeselliges. Dabei redete er so gern. Deshalb übte er sich in Maximen, Kalauern, Sprichwörtern und Zitaten, mit denen er beeindrucken konnte, ohne etwas von sich preiszugeben. Bald wurde daraus eine Manie, er zitierte ausgefallene Gedanken von Philosophen, aus Biographien gefallener Generäle und aus Gedichten. Er lernte Fabeln und Sinnsprüche auswendig und durchwirkte seine Sätze mit Goethes Maximen und Reflexionen.
    Seine Gebildetheit kam an. Bald nannten ihn die Lehrer »unseren Goethe«. Er nutzte das System Schule für seine Zwecke.
    Der Schulbetrieb, berichtet er, nahm einen »gemächlich-epischen, in gewissem Sinne sogar idyllischen Verlauf«. Schon machte er sich Gedanken über seine künftige Berufung: Paedagogus nascitur! Der Lehrerberuf würde sein Bewußtsein für die Gesellschaft schärfen, war heroische Pflicht. Hunderte von Schülern würde er im Sinne des Deutschtums und der Vaterlandsliebe unterweisen.
    Â»Es war ein Band innigster Zusammengehörigkeit, das uns alle umschlang, Schüler und Lehrer, Schule und Elternhaus, Große und Kleine, Arme und Reiche, Protestanten und Katholiken, und auch die Juden, soweit sie es selber wollten, waren nicht ausgenommen«, schreibt er. Hat hier die Selbstzensur versagt? Aber nein. Schließlich gehörte er nicht zu den Juden.
    Die Hauptsache war die Gemeinschaft, das Band. Schon beruhigte es ihn, daß Hunderttausende nicht anders dachten, und die überkommenen Werte waren für ihn ohnedies nicht zu

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