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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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erschüttern. Sein Ziel: einmal zum ›sitzenden Heer‹ zu gehören – ein ›staatlich besoldeter Akademiker zu werden‹. Eine Professur an der Universität
würde er ohnedies nicht erreichen, das war für Juden so gut wie unmöglich.
    Ihm blieb der Gymnasialprofessor, der Studienrat.
    Dafür hatte er bereits klare Vorstellungen: Er plädierte für strenge Auslese unter denen, die sich fürs Lehramt meldeten und praktische Erprobung schon während der Ausbildungszeit – damals keineswegs an der Tagesordnung. Er hatte seinen Pestalozzi gelesen und begann, über die Ausbildung der Kinder nachzudenken.
    Bereits 1883 fällt er erste politische Entscheidungen. Schon mit sechzehn Jahren, als er endlich die kurzen Hosen ablegen durfte und in die von ihm selbst finanzierte Tanzstunde ging, fand er sich im Gymnasium zwischen verschiedenen Gruppen: den deutschnationalen, den katholischen und den jüdischen. Doch »schwammen die meisten, sofern sie überhaupt politisches Interesse zeigten, im deutsch-liberalen Fahrwasser«, auch die jüdischen Mitschüler. Schüchtern begannen sich bereits antiliberale Strömungen bemerkbar zu machen. Da gab es eine geheime Verbindung, »weitaus schärfer nationalbetont als die unsrige«, und zwischen den beiden Gruppierungen bauten sich heftige Spannungen auf. »Ich fühlte mich sehr geehrt, wenn sie mich in ihren Kreis zogen, an ihren politischen Debatten teilnehmen ließen und so allmählich auch für ihren nationaleren, antiliberalen Kurs gewannen.«
    Mit seinem deutschnationalen Bekenntnis schloß er sich keineswegs der Mehrheit an und schreckte bald vor antisemitischen Äußerungen nicht zurück: klares Zeichen seiner pragmatischen Wandlung. Es war sicherer, auf der Gegenseite zu sein, und je heftiger man die Juden angriff, um so sicherer: Je massiver die Angriffe wurden, desto mehr verschob sich seine Position nach rechts. Kam es
zum Disput, verlor er nie die Beherrschung, sondern bekundete ein freundliches Interesse für antisemitische Dinge.
    Anpassung bis zur Selbstverleugnung?
    Sie muß annehmen, daß er antisemitische Äußerungen nicht scheute, sie lagen in der Luft. Zu seiner Zeit mußte man sich deshalb nicht auf die Zunge beißen. Früh darauf trainiert, Erwartungen zu erfüllen, hat er diese Haltung im Lauf der Jahre perfektioniert.
    Seine Verkleidung mußte glaubwürdig sein. Mußte mit seiner Haut verschmelzen. Er war zufrieden, weil der Jude immer weniger kenntlich war. Gab ihm das ein Gefühl von Sicherheit?
    Er hatte früh seine Nische gefunden.
    Er gehörte dazu.
    Ein Beispiel die folgende Geschichte, die er mit einem gewissen Stolz auf seine Wandlungsfähigkeit erzählt.
    Wortmächtig wie er war, avancierte er bald zum Anführer der Deutschnationalen, und als ihn der Direktor wegen der Aktivitäten seiner Gruppe zur Rede stellte, baute er in aller Eile ein glaubhaftes Lügengebäude auf. Vor dem Direktor stehend, den Blick auf dessen weißen Hemdkragen geheftet, behauptete er: »Die Gruppe, Herr Direktor, ist aufgelöst.«
    Doch kaum eine Stunde später stand er schon wieder vor seiner deutschnationalen Gruppe und verkündete triumphierend, daß er den Direktor, »Handlanger einer slawenfreundlichen Regierung«, überlistet habe, und wetterte gegen die aufkommende Sozialdemokratie.
    Die Leichtigkeit, mit der er sich freispricht, verblüfft. Warum hält er das für mitteilenswert? Es muß etwas Besonderes für ihn gehabt haben, wie weit seine Anpassung bereits fortgeschritten war und wie ironisch er mit ihr umzugehen verstand.
    Kaum hatte er mit Erfolg die Matura bestanden, träumte er auf seiner Strohmatratze von Wiens weißen Palästen und luxuriösen Hotels, von goldgeschmückten Theatersälen und sonnenüberfluteten Prachtstraßen. Er war sich sicher, in Wien mit einer alten Hose anzukommen und dort bald zu leben als Herr über drei Anzüge. Doch die letzten Tage zu Hause schlief er wenig. Von Bielsko nach Wien – das war zumindest teuer. Neue Erfindungskraft war notwendig, um das Studium in Wien zu finanzieren.
    Daß er ein guter Erzähler sein kann, mit Gespür für die einfachen Leute, zeigt der Bericht seines demütigenden Bittgangs, einer von vielen, die ihm noch bevorstehen würden. Er schob es bis zuletzt hinaus, und es war bereits dunkel, als er am Abend vor der

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