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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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Abreise nach Wien endlich mit klopfendem Herzen vor dem Getreidehändler stand, dessen Söhne er unterrichtet hatte. Die Abende waren kalt, aus der Küche drang der Geruch von Gebratenem, der Getreidehändler saß vor dem Kamin und nahm gerade ein Fußbad. Verlegen stammelnd, dann mit Verve und dringlicher Überzeugungskraft brachte Eliezer sein Anliegen vor.
    Der Getreidehändler hörte ihn freundlich an, trocknete seine rotgesottenen Füße, erhob sich ächzend und verschwand. Das Haus war still, die Tür geschlossen. Ein grüner Kachelofen, ein weinrotes Samtsofa, ein großer Tisch und ein Sessel. Das Warten machte Eliezer unruhig. Nach einer Viertelstunde stand er auf, setzte sich aber gleich wieder, da er dachte, das Herumgehen könnte ihm falsch ausgelegt werden.
    Das glückliche Ende kam unvermutet, als der Getreidehändler nach einer halben Stunde mit einem Kuvert zurückkehrte, das in seinen »Fingern brannte. Aber ich wag
te es nicht zu öffnen«. Erst im Stiegenhaus riß er es auf: Es waren zwanzig Gulden, ein ungeheurer Betrag. Aber auch das ganze Vermögen, mit dem er seine Reise in eine ungewisse Zukunft antrat.
    Um des Wissens, der Kunst, des Schreibens und der Assimilation willen macht er sich auf nach Wien. Und dann steht der Achtzehnjährige im Oktober 1885, den Koffer in der Hand, auf dem Bahnhof Auschwitz vor seiner Mutter, die ihn von Bielsko bis hierher begleitet hat, und spürt den Regen nicht, der ihm in den Kragen rinnt. Er blickt in Hindes verhärmtes Gesicht und hat Mitleid mit ihr.
    Noch könnte er seinen Entschluß umstoßen. Zugleich aber wußte er, daß er das nicht tun würde. Wer an sich selbst zweifelt, kommt nicht weiter. Von ihm hing es ab, ob er der unterjochte Junge von einst blieb oder endlich ein neuer, selbständiger Mann wurde. Ohne sichtbare Regung ließ er seine jüdische Kindheit hinter sich, die Mutter und die Familie.
    Ich schreibe dir bald, sagte er.
    Am Bahnhof öffnete sich kurz die Tür zum Entlausungsraum, als Sanitäter fünf russische Juden hineintrieben, die nach Deutschland auswandern wollten. Ein enger Raum, in der Mitte ein Ofen, auf dem ein großer Kessel brodelte. Die Menschen wurden unter die dampfende Dusche geschoben und eingeseift.
    Was er hier beschreibt, erschreckt sie. Die spätere Katastrophe bereitet sich vor. Diskriminierungen als alltägliche Tatsachen, denen sich niemand widersetzt. Auch bei diesen ›sozialhygienischen Maßnahmen‹ reicht eine kontinuierliche Linie vom Kaiserreich zum NS -Reich.
    Er umarmt die Mutter hastig, fast grausam sein knappes Abschiedswort, er schwingt sich erleichtert hoch in den Zug.
    Still steht die Mutter da, in der Hand das Taschentuch. Daß er sich so brüsk losgerissen hatte, war etwas, das sie, denke ich mir, nicht verstand. Sie muß ihren Sohn immer wieder anschauen, und als der Zug anfährt, läuft sie ein paar Schritte mit, dann läßt sie die Hand mit dem Taschentuch sinken.
    Eliezer atmet auf. Niemand mehr würde künftig wissen, daß er Jude ist.
    Inzwischen war Eliezer vor dem Abteil der vierten Klasse stehengeblieben. Keine Sitzbänke, die Reisenden kauerten auf ihren Koffern, Säcken und Kisten, am besten hatten es noch die kleinen Kinder in ihren Kinderwägen. Ein Hund vor ihm mit aufgerichtetem Schwanz, Kindergebrüll, Gewühl und Gestank, dagegen war es bei ihm zu Hause mit den fünf Kostkindern friedlich gewesen. Landleute, Arbeiter, Tagelöhner, Soldaten, Männer in Kaftanen mit Bärten. Es roch nach Schweiß, Urin und Kot. Eine Ziege, mit einem Strick ans Bein eines schlafenden Bauern gebunden, meckerte, ein Alter hustete, Hühner gackerten hysterisch zwischen seinen Beinen, eine Frau weinte, eine Alte wimmert – der Aufruhr jener, die schwer am Abschied vom Gewohnten trugen und in der Fremde Sicherheit und Auskommen suchten. Kaum Licht und trotz der Dumpfheit kalt.
    Erst stand er steif da, dann setzte er sich doch vorsichtig auf seinen Koffer, an Schlaf war ohnedies nicht zu denken. Er empfand eine Beschämung, zusammengepfercht wie Vieh die Nacht zu verbringen, eine Demütigung und etwas Armseliges, das Elend des Ostens. Eine Nacht, die er nie vergessen sollte und aus der er mit einer gewissen Härte hervorging, mit gestärktem Willen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
    Je mehr er sich Wien näherte, desto unruhiger wurde er,
er stand auf,

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