Meine Väter
Er beschäftigte sich schon damals mit Sprachgestaltung in der Schulpädagogik und plante Theatergruppen als Therapie, um Kinder verschiedenster Herkunft zusammenzuführen. Das Schulsystem müÃte, da waren sich Ferdinand und Steiner einig, trotz Pestalozzis Vorstoà reformiert werden, ohne die krankmachende Vermengung von Scholastik und Glaube. Gesundes menschliches Denken! An Gottes Stelle den freien Menschen! Das waren Anschauungen, die Ferdinand brennend interessierten.ââ
Steiner führte ein unruhiges Leben und verdiente sein Geld als Erzieher und Hauslehrer bei einem jüdischen Kaufmann. Ein Mann von enormer Vielseitigkeit und Elo
quenz. Ferdinand fühlte sich mit ihm in seiner Liebe zu Wagner und Nietzsche verbunden. Gerade war Nietzsches Buch Also sprach Zarathustra erschienen, das sie an freien Sonntagnachmittagen gemeinsam lasen. Nietzsche war ihr Gott und Zarathustra ihre Bibel. Aus ihr sogen sie die Verherrlichung der Freiheit. Wenn sie unter sich waren, empfanden sie sich als »höhere Menschen« auf dem rechten Weg zum »wahren Ãbermenschentum« und blickten voller Verachtung auf die kleinen Geister herab.
Steiners Wortschärfe und seinem wahllosen Umgang gegenüber blieb Ferdinand jedoch reserviert: Dieser Hermaphrodit der Weltanschauung verkehrte mit den Monisten des Giordano-Bruno-Kreises ebenso wie mit Vorkämpferinnen der freien Erotik und mit Homosexuellen und war überhaupt ein recht bedenklicher Abenteurer, der jede vorgegebene Wahrheit und Autorität bekämpfte. So sehr er Steiner schätzte, fühlte Ferdinand vielleicht instinktiv, daà dieser seinen Schleichweg der Anpassung durchkreuzen konnte, und wenn Steiner leicht schwankend mitsamt seiner übersteigerten Mitteilsamkeit und Erregbarkeit entschwand â er trank nicht übel und absolvierte jeden Abend an die fünf Verabredungen â, blieb Ferdinand zurück und hob mit den anderen das Glas.
Er hält das Glas mit der gleichen Haltung wie die anderen, den Ellbogen angewinkelt, nimmt einen Schluck, blickt sie alle der Reihe nach mit einer kleinen Verneigung an und stellt das Glas wieder ab. Ist er deshalb wie alle anderen, Bürger wie sie?
Der Gedanke gefiel ihm offenbar: Man konnte Bürger und Dichter sein. Fercher wurde zur Vaterfigur. Der in einem Weiler namens Untere Steinwand geborene Dichter, Sohn einer Magd, fühlte eine starke Verbundenheit
mit den Kindern, die in Armut aufwuchsen, und förderte ihre Sprachentwicklung. Noch im Jahr 1994 wurde in Ãsterreich ein Verein zur Sprachgestaltung nach Ferchers Vorbild ins Leben gerufen.
Fercher öffnete meinem GroÃvater seine umfangreiche Bibliothek, versorgte ihn mit den neuesten Informationen aus Literaturbetrieb und Buchmarkt und fügte ihn in ein Netzwerk ein.
Wie Fercher fühlte Ferdinand eine leidenschaftliche Verbundenheit mit dem Volk, dessen politische, nationale und soziale Zustände allerdings seine Kritik herausforderten. Es gäbe Grund genug, meinte er, sich aufzulehnen, doch nicht zuletzt verband ihn mit seinen Dichterkollegen »die Ohnmacht, etwas daran ändern zu können«.
Es lebe unser Vaterland, es lebe Ãsterreich! Alle schlossen sich Ferdinands Trinkspruch an. In der Judengasse geboren, wünschte er sich ein Vaterland, das stärker war als alle anderen Länder dieser Welt.
Doch die Sozialdemokratie halten wir uns besser vom Leib! Wieder hob Ferdinand das Glas und erntete Zuspruch. Deutschtümelnde Gesinnungshändel entzündeten sich. Der GroÃteil schloà sich ihm an, der die Ziele der Sozialdemokraten zwar legitim fand, ihnen aber nur wenig Zuneigung entgegenzubringen vermochte. »Ihr internationaler Charakter stieà uns ab, die wir uns als deutsche Dichter unseres Deutschtums voll bewuÃt waren.« Für eine Veränderung engagierte er sich nicht: SchlieÃlich waren sie nur »arme Teufel«, denen »eine Schale Kaffee in irgendeinem obskuren Vorstadtbeisel die einzige warme Mahlzeit des Tages bedeutete«. Er muà sehr wohl gespürt haben, daà dies eine Ausrede war, und beschwichtigte sich: »Unser kleiner Kreis lebte ja fast am Rande des Daseins, wir hatten nur lose Fühlung mit den groÃen
politischen und nationalen Strömungen jener Epoche«, bedrängt von den »immer lauteren Rufen des nationalen Kampfes gegen die vordringenden slawischen Völkerschaften der Monarchie« und dem »gewaltsam
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