Meine Väter
unterdrückten Schrei der hungernden Massen nach sozialen Reformen«.
Der Liberalismus stellte für ihn lediglich den »Niederschlag eines satten und zufriedenen Bourgoistums, das sich gerne mit einem himmelblauen Mäntelchen drapierte, aber in Wirklichkeit keine anderen Ideale kannte als den Geldsack« dar. Aus seinen Worten spricht bereits eine frühe Resignation: Von der »Verständnislosigkeit und Unbarmherzigkeit eines ausbeuterischen Bürgertums wüÃten wir aus eigenen Erfahrungen manch trauriges Lied zu singen«.
Der österreichischen Literatur jener Zeit war ihr europäisches Format längst abhanden gekommen. Sie war dabei, ins Provinzielle abzugleiten. Wien überschätzte sich, Europa war noch die Welt, alles andere Kolonie â während das eigentliche Geschehen sich längst anderswo vorbereitete. Halt suchend in einer literarischen Teilkultur, einem intellektuellen Debattierklub, der das nationale Motiv betonte, gedieh ein antidemokratischer, bald rechtsextremer Nationalismus.
Ferdinand ist auf dem Sprung. Dem Sprung zur nächsten Etappe.
Der Voll-Assimilation.
Ferdinand verband eine langjährige Freundschaft mit Hermann Bahr, der der Dichterrunde Passagen aus seiner Trauerrede auf Richard Wagner vorlas. Die antisemitischen Stellen kamen niemandem anstöÃig vor, und man wunderte sich, daà Bahr deshalb von der Universität Wien ausgeschlossen worden war. Wie Ferdinand verehrte auch
Bahr Richard Wagner, symptomatisch für die Zeit um 1888/89. Subtiler war Ferdinands Verehrung für Anton Bruckner. Oft saà er an Bruckners Klavier, nachdem er gerade dessen Vorlesungen zur Harmonielehre gehört hatte, und spielte Phantasien. Die Stuhlreihen des kleinen Musikraums in der Universität waren mit Kollegen aus der Germanistik, die zum Wagner-Kreis gehörten, besetzt, die seinem Spiel lauschten.
Das Klavierspiel hatte er sich, ebenso wie acht Sprachen, in den langen Jahren als Hauslehrer selbst beigebracht, und er war stolz darauf, jeden Donnerstag nach Bruckners Vorlesungen ein wenig spielen zu dürfen. Er liebte solche Rituale. Jeden zweiten Mittwoch ging sein kleiner Wagner-Kreis in die Oper, und donnerstags wurde die Aufführung diskutiert, ehe sie, anschlieÃend an Bruckner, die Vorlesungen über die Geschichte der Instrumentalmusik bei Eduard Hanslick besuchten.
Den ganzen Wagner hatte er immer noch nicht gehört, obwohl sein Werk an der Oper mehr als gut vertreten war. Dreimal pro Jahr wurde der Ring gegeben, Ferdinands Lieblingsopern, weil sich in ihnen der arische Mythos aufs herrlichste ausbreitete, zudem noch Tristan und Isolde , Tannhäuser mit Leo Slezak, Die Meistersinger, Rienzi, Lohengrin . Jede zweite Opernaufführung hatten sie in der Hofoper gesehen, und im Winter liefen sie im Anzug durch die Kälte, um sich das Geld für die Garderobe zu ersparen, und holten sich beim Anstehen im Freien eine Erkältung.
Wagner war der unbestrittene Gott, Bruckner und Brahms spalteten den Kreis. Den »kleinen rundlichen Bruckner mit seinem Cäsarenkopf«, wenn er so daherschlurfte, liebte und verehrte er, er mochte seine ungezwungene Art, über Musik zu sprechen, fern von akademischem Jargon,
aber doch hochdifferenziert. Die gesunde, fast bäuerliche Kraft, die im Gegensatz zu seiner komplexen Persönlichkeit zu stehen schien, und die Güte, die er ausstrahlte, gewannen sein Herz.
Um Wagner gab es, berichtet Ferdinand, wiederholt Zwiste. Niemals würde ein Jude Wagner und seine Siegfried-Figur verstehen, meinten manche, das sei tief im Ariertum verankerte Instrumentalkunst, und er fühlte, daà Wagners Musik auch eine politische Seite hatte, ganz an das deutsche Volk gebunden.
ÃuÃerungen dieser Art mögen nicht ganz ohne Unbehagen von Ferdinand vernommen worden sein, doch er schwieg dazu. Wagners Hetzschrift Das Judentum in der Musik , nach Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain »das Gewissen der Nation«, avancierte zu seiner antisemitischen Bibel. Auf Ferdinands Nachttisch lag neben Nietzsche, Otto Weininger und Carl Friedrich Glasenapps sechsbändiger Wagner-Biographie nun auch Chamberlains Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts , in dem er die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur feierte.
Ihr ist diese Wagnerliebe suspekt. Für sie haftet dem Zusammenspiel von Nietzsche und Wagner, dessen Symbolismus vor allem in der Siegfried-Gestalt die Visionen des
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