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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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suchte okkultistische Zirkel auf und nahm an Séancen teil, interessierte sich für »Gedankenleser« und Telepathie und vertiefte sich in Büchners Kraft und Stoff . So fütterte er sich mit allem, was bei den Bildungsbürgern um die Jahrhundertwende im Schwange war. Ein symbolisches Wissenskapital.
    Er lebte gesund, verkehrte in Vegetarierkreisen, diskutierte mit seinem neuen Freund Hans Gentzen heftig über Ernährungsfragen. Die blasse magere Schar der ihrem Glaubensideal kindlich-naiv ergebenen Lebensreformer und Vegetarier erinnerten ihn an die Jünger Jesu, nur daß hier der Heiland fehle. Das glich sein alter Freund aus Bielitz, der ehemalige Schulkollege Wilhelm Andreas Schmidt, der Theologie studierte, mit seinem Wissen aus. Die Lebenskosten bestritt Ferdinand wie gewohnt mit einem Hauslehrerposten.
    Sein ungeheures Bildungsprogramm, das er sich auferlegte, erfüllte ihn mit tiefer Zufriedenheit. Sein Leben war Arbeit und Pflicht, Privates blieb unerfüllt.
    Wiederholt pilgerte er erfolglos zum Lehrter Bahnhof, wenn es hieß, Bismarck würde dort ankommen. Er besuchte den Reichstag. Auch da vernahm er »nur« Bebel,
der »mit stark sächsischem Akzent markig und aufrichtig sprach«: die dritte Lesung des sogenannten Sozialistengesetzes. Enttäuscht notierte er: »Ich erwartete Bismarck und hörte diesen!«
    Dunkle Gerüchte von einem Konflikt zwischen Kaiser und Kanzler machten die Runde und erschütterten das Vertrauen in den jungen Kaiser, den er Unter den Linden hoch zu Roß gesehen hatte. »Die sozialistisch eingestellten Schichten der Bevölkerung« aber »träumten bereits von einer deutschen Revolution.« Er besuchte sozialdemokratische Versammlungen: »Große Massen, wenig Geist.« Am 20. März 1890 gelang es ihm endlich, Bismarck zu sehen, seinen »schneeweißen Kopf. Bismarck, zu Pferde … Er trägt Brillen, die Augen blicken frisch selbstbewußt drein. Weiße Generalsmütze, kaffeebraune Uniform, gelbe Aufschläge: auf braunem Pferd.«
    Soweit es seine Finanzen erlaubten, besuchte er jeden zweiten Abend die Oper oder das Theater, sah Vor Sonnenuntergang von Gerhart Hauptmann, vielleicht auch Die Weber , die möglicherweise sein erstes Bühnenstück Familie Wawroch beeinflußten. Er sah das Sozialdrama Die Ehre von Hermann Sudermann, schwärmte für Ludwig Anzengrubers Kreuzelschreiber und war erschüttert, wenn er in dessen Viertem Gebot oder Der Pfarrer von Kirchfeld jenen Typus entdeckte, den der Autor den »Oansam« nannte. Auf dem Nachhauseweg nach der Aufführung standen Tränen in seinen Augen. Vielleicht dachte er an Zarathustra : »Ach, wohin soll ich noch steigen in meiner Sehnsucht? Von allen Bergen schaue ich aus nach Vater- und Mutterländern. Aber Heimat fand ich nirgends.«
    Die freie Zeit verbrachte er mit Museums- und Ausstellungsbesuchen, die Abende gehörten der Lektüre im Ori
ginal: Von Walter Scott, Shakespeare, Zolas Germinal und den Brüdern Goncourt, er vertiefte sich in Tolstoi, Turgenjew und Dostojewski und verschlang Ibsen und Strindberg. Ein Leben wie aus einem deutschen Bildungsroman.
    Die verlorene Gemeinschaft des Wiener Dichterkreises suchte er in Kreisen der Berliner Literaten, dort, wo Juden und Nichtjuden sich begegneten. In Germanistenkneipen fand er zum »Ethischen Club« – dem Arno Holz, Karl Bleibtreu, Otto Erich Hartleben, Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel, Ernst von Wolzogen aus München und der germanistische Seminarkollege Alfred Kempner aus Breslau, der sich später Alfred Kerr nennen würde, angehörten. Sein metaphysischer Rückhalt, wobei der göttliche Patron Goethe, Vater der Väter, auf seinem Sockel ein wenig ins Wanken geriet. Denn er erlebte begeistert den Durchbruch des Naturalismus auf der Bühne, bei dem das bislang vernachlässigte soziale Moment hervortrat. Sofort faszinierte ihn der offen revolutionäre Ton und der Drang, die Welt zu verändern – eine in seinem Club vieldiskutierte neue Möglichkeit der Literatur.
    Erstmals dachte er nicht nur voll Abwehr an die Not der Menschen, die er in Oświęcim und Bielsko gesehen und erlebt hatte. Ihm mußte man nicht sagen, was Ausbeutung und Armut waren! Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen im Dichterkreis kannte er die schweren existentiellen Kämpfe der Fabrik- und Bergarbeiter, kannte die Not der Armen. Das

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