Meine Väter
Nazismus genährt hat, etwas Gefährliches an, das den latenten Antisemitismus verstärkte.
War für Ferdinand Antisemitismus die beste Tarnung?
1899 ahnte er noch nicht, daà die österreichische Monarchie, die er so liebte, bald auf dramatische Weise zum Untergang verurteilt sein und der angebetete Adel nur noch eine Scheinexistenz führen würde. Aber er fühlte doch, wie die alten Werte sich verflüchtigten, aufgesogen wurden von einer seltsamen Leere, die auch an der Universi
tät spürbar wurde. Dazu die immer massiveren Angriffe auf die Juden. Er kannte Luegers Rede vor dem Parlament. Mit angehaltenem Atem hatte er gelesen, wie virtuos dieser Meister der Simplifizierung auf der Klaviatur antisemitischer Vorurteile spielte:
»Ich frag Sie, können die christlichen Bauern dafür, daà der Getreidehandel sich ausschlieÃlich in den Händen der Juden befindet? Können die christlichen Bäcker dafür? Kann vielleicht das christliche Volk dafür, daà die meisten Konfektionäre Juden sind?« Das ging so weiter, bis zu den Advokaten und Ãrzten, ehe Lueger sich das »sogenannte Judendeutsch« vornahm, das die Juden gebrauchten, »damit sie untereinander reden können, ohne daà sie jemand versteht«.
Finis Austriae. Die Affäre Meyerling am 30. Januar 1899, als der beliebte Kronprinz Rudolf unter rätselhaften Umständen zusammen mit seiner heimlichen Geliebten, der siebzehnjährigen Mary Vetsera, tot aufgefunden wurde und das Wort »Finis Austriae« von Mund zu Mund ging. »Man kann sich heute davon keine Vorstellung machen«, schrieb er, »was dies damals bedeutete. Es war mehr als eine verlorene Schlacht, der Glaube an die Zukunft und den Bestand des Reiches war erschüttert.« Er hatte »das deutliche Gefühl«, daà »für die ganze Welt, namentlich die deutsche Welt und nicht zuletzt die deutsche Literatur der Anbruch einer neuen Zeit gekommen sei«.
Ehe die Orientierungslosigkeit und amoralische Leere auf ihn übergriff, versuchte er, den Ungeist, der in seinem Land herrschte, für sich ins Positive zu wenden. Er entschloà sich, die Brücken in Wien abzubrechen und an die Front des modernen Lebens zu gehen.
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16. Berlin
Also auf nach Berlin, wo Europa dachte und Germania lebte, hinein in ein künftiges Zeitalter! Die Heimat Bismarcks, Treitschkes, Wilhelms, Hindenburgs, Nietzsches muÃte für eine Weile auch die seine sein. In Berlin angekommen, machte er sich zu Fuà auf zur Universität und studierte als erstes die Anschläge mit den Vorlesungen. Neben Germanistik als Hauptfach belegte er bei Heinrich von Treitschke Politik und vertiefte sich in seine »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert«.
Was fängt sie mit seiner Verehrung für Treitschke an, der dem Antisemitismus Schubkraft gegeben und den Berliner Antisemitismusstreit ausgelöst hatte? Für einen Mann, der geschrieben hatte, daà aus »der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer, Hosen verkaufender Jünglinge hereindränge, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen« würden? Tat er das, um der Version seines neuen Lebens Glaubwürdigkeit zu verleihen?
Das sind die wahren Apokryphen. Bis zur Verblendung vom Antisemitismus seiner Zeit infiziert, schloà er sich ihm an. Einfach, weil es ihn gab. Weshalb er wahr sein muÃte. Weil ihn alle hatten. Früh suchte er Nischen, in denen er unbeschadet davonkam.
Er besuchte Theodor Mommsens »Privatissimum«, hörte bei Delbrück Geschichte, bei Bebel die Lesungen über das Sozialistengesetz. Wissen als Selbstzweck? Schlichtweg alles, was sich ihm bot, saugte er auf: Er schrieb sich für Physische Anthropologie â schon wurde die Homunkulus-Wissenschaft Rassenhygiene gelehrt â und Hyp
notismus ein. So sickerte allmählich völkisches Gedankengut in ihn ein, Bevölkerungsvermehrung, Geburtenbeschränkung, Kinderaufzucht, Fremdehen, »Volkskörper« und »Bevölkerungsbiologie« betreffend, Vorboten eines Gesinnungswandels. Er hospitierte bei Rudolf Virchow in Pathologie, bei Hermann von Helmholtz in Physik, bildete sich in Naturheilkunde und Lebensreformen.
Mühelos häufte er Wissensberge in seinem Kopf an. In jugendlicher Begeisterung gab er sich der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Physis und Psyche hin. Er
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