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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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brachte in ihm Geschichten hervor, und er ahnte, daß hier ein Weg lag, herauszutreten aus der Vereinzelung. Als ihm sein Bruder Josef in einem Brief von der Tragödie einer Arbeiterfamilie in Mährisch-Ostrau berichtete, war sein Entschluß für ein Drama gefaßt.
    Er hatte die Judengassen verlassen, das Judentum abgestreift, nun konnte er den Sprung in die Öffentlichkeit wagen und sich zum Schriftsteller emanzipieren, der den Schritt in die Moderne tat. Er würde mit seinem Stoff keine fremde, sondern eine ureigene Sache behandeln. Er vergrub sich in seine Deutsche Sprachlehre, um seine Sprache noch weiter zu vervollkommnen, machte sich Notizen und verfolgte begierig in den Tageszeitungen Artikel über niedergeschlagene Streiks in den Ostrauer und Bielskoer Industriebezirken, las Provinzblätter, die von Arbeiterelend und Unterdrückung berichteten, und Bücher über die Industrialisierung. Lange stand er im Alten Museum vor Menzels großem Bild Eisenhüttenwerk , das seine dramatische Phantasie entzündete.
    Der Sog des Aufbruchs. Er betrat Neuland, geistig durchaus auf der Höhe der Zeit und keineswegs apolitisch. Chance und gleichzeitig Risiko.
    Mittendrin plötzlich ein Hilferuf aus Bielitz: Die Mutter war schwer erkrankt, die Geschwister waren hilflos, der wieder zur Familie zurückgekehrte Vater arbeitete weit entfernt – er hatte einen kleinen Beamtenposten im Forstdienst »tief drinnen in Galizien« angetreten. Sein Bruder Josef hatte das Gymnasium abgeschlossen und war in Wien.
    So machte sich Ferdinand rasch nach Bielsko auf und fand die Mutter im Elend. Aus Angst vor Auslagen hatte sie ärztliche Hilfe verschmäht. Ferdinand besorgte einen Arzt und Medikamente, gab Geld.
    Er nutzte die Gelegenheit und betrat das unveränderte Auschwitz, das er seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hatte, »mit sehr eigentümlichen Gefühlen«, stapfte über das »holperige Pflaster der engen, winkeligen, übel duftenden Gassen« und besuchte Angehörige. Und er trug
bei seinen Besuchen in den Orten seiner Kindheit nicht nur die Polizeimeldungen und Artikel der Troppauer Zeitung zusammen, um sein geplantes Bühnenstück realitätsnah zu gestalten, sondern sah sich seine geplanten Spielorte im Teschener Schlesien genau an.
    Als der Vater für ein Wochenende nach Hause kam, galt seine erste Frage dem Studium, und Ferdinand mußte gestehen, daß er zwei Semester »verbummelt« hatte. Das wahre Motiv, die Abstreifung des Judentums, konnte er nicht zugeben.
    Streit. Entzweiung. Sie schieden unversöhnt.
    Ferdinand tröstete sich in seiner Verzweiflung mit dem Kantischen Soll. »O Kantisches Soll; wenn nicht du, wer hielte mich sonst noch aufrecht im Drange der heftig einstürmenden Affekte! Du gibst mir Kraft und Ausdauern du hilfest mir hinweg über die toten Punkte meines Lebensschwungrades.«
    Anstelle der längst fälligen Auseinandersetzung mit dem Vater der Merksatz, das Postulat?
    Wieder zurück in Wien, sah er im alten Burgtheater König Ödipus : »Ich erinnere mich deutlich, daß ich während der Vorstellung meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und so laut schluchzte, daß mich meine Nachbarn auf den Stehplätzen der vierten Galerie durch kräftige Rippenstöße zur Ruhe wiesen.« Mag sein, daß es weniger das inzestuöse Verhältnis des Ödipus zu seiner Mutter war, das ihn so erschütterte, sondern vielmehr der von Unheil begleitete Weg des Unbeugsamen, der unbeirrt seinem Weg folgt und seine Vergehen ohne Schuld unwissend begangen hat. Der endlich, nach langer Irrfahrt, Ruhe und Frieden findet.
    Â 
    * * *

17. Martha Martha
    Höchste Zeit, daß endlich in seinem Leben eine Frau auftaucht. Bis auf eine Schwärmerei ist bislang kaum Interesse am Weiblichen zu erkennen – mangelte es nur an der Zeit? Doch im Jahr 1890 schrieb der Dreiundzwanzigjährige in sein Tagebuch: Ich stehe an meines Lebens Scheide. Es war der Blicktausch mit der blonden Martha Schelle, einer Erzieherin aus Wolgast, die gerade in Berlin ihre Stelle angetreten hatte. Er »bangte um ein Wiedersehen« und erbat sich ihre Handarbeit als Pfand.
    Zu Hause küßte er das Leinen mit der begonnenen Stickerei. Sein Tagebuch lag brach. Studien und Arbeiten waren vergessen. Er schwänzte die Vorlesungen, mied die Bibliothek.
    Die und keine andere, schwor sich

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