Meine Wut ist jung
repräsentativen Demokratie könnten zum Beispiel sein: Öffnung der Parteien für Nichtmitglieder, Abbau der übermächtigen Stellung von Parteien in Staat und Gesellschaft, Strafbarkeit der Bestechung von Abgeordneten - um nur einige zu nennen.
Zur Glaubwürdigkeit unserer Demokratie gehört auch, dass wir das Sozialstaatsprinzip unseres Grundgesetzes ernst nehmen. Auf eine ökonomisch effektive Gesellschaft können wir nicht verzichten, aber eben auch nicht auf »Brüderlichkeit«, um diesen alten Begriff zu verwenden. Das scheinbar Nutzlose darf nicht abgewertet werden. Wirtschaftliche Effizienz und persönlicher Vorteil führen nicht automatisch und selbstverständlich zum allgemeinen Wohl.
Im Zusammenhang mit den politischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren insbesondere zum Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit haben Sie Erich Fromm entdeckt. Was bedeutet er für Sie?
»Die Furcht vor der Freiheit« ist der Titel eines Buches von Erich Fromm, in dem er bereits 1941 eindrucksvoll seine Gedanken zum Wesen der Freiheit und ihrer Bedeutung für den modernen Menschen ausführt. In der Freiheitsgeschichte des Westens beziehen wir uns in der Regel auf die philosophischen und politischen Wurzeln, die in der Aufklärung liegen. Die psychologische Entwicklung des Menschen, die Wirkung von Gefahren auf die Psyche des Menschen gerät dabei allzu oft aus dem Blick. Erich Fromm geht den Ursachen eines übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses im Menschen aus der Sicht des Psychoanalytikers und Sozialphilosophen nach.
In der Tat, die Sorge, dass grenzenloses Sicherheitsstreben uns gleichgültig macht gegenüber den Grundwerten unserer freiheitlichen Ordnung und eine Bedrohung für das erfüllte Leben des Einzelnen und auch für die Zukunft der Demokratie darstellt, verbindet mich mit Erich Fromm: »Unsere Kultur hat die Tendenz, Menschen hervorzubringen, die keinen Mut mehr haben und die es nicht wagen, auf eine anregende und intensive Weise zu leben. Wir werden darauf getrimmt, nach Sicherheit als Lebensstil zu streben. Diese aber lässt sich hier nur dadurch erreichen, dass man sich vollständig anpasst und völlig gefühllos wird. So gesehen, sind denn auch Freude und Sicherheit völlige Gegensätze, denn Freude ist das Ergebnis intensiven Lebens.«
Unsicherheit ertragen zu können und Risikobereitschaft gehören zum Wesen des freien Menschen: »Der freie Mensch ist notwendigerweise unsicher; der denkende Mensch ist sich notwendigerweise seiner Sache nicht gewiss.« Der Glaube an das Leben und die produktiven Kräfte, die in jedem Menschen wohnen, begleiten den Weg zum selbstbewussten »Ich bin ich«. Ich stelle mir immer wieder die Frage, warum derart viele Menschen gegenüber Freiheitseinschränkungen so gleichgültig sind.
»Erich Fromm zu lesen bedeutet unter anderem zu begreifen, dass Furcht vor der Freiheit den schmerzlichen Prozess der Aufklärung und Säkularisierung auf dem Weg in die Moderne begleitet. Denn es stimmt ja: Wir gewinnen vieles durch die Freiheit hinzu, aber wir müssen ein Leben im Risiko akzeptieren und verlieren die bequeme Sicherheit. So ist der Mensch immer von Furcht begleitet, wenn er den Raum der Freiheit betritt ...«, dieses schrieb mir Bundespräsident Joachim Gauck, der eine enge Beziehung zu Erich Fromm hat, nach seiner Wahl auf mein Glückwunschschreiben, dem ich meine Rede zur Verleihung des Erich-Fromm-Preises beigefügt hatte.
Ich möchte an dieser Stelle auch Carlo Schmidt zitieren, einen der Väter des Grundgesetzes: »Wir sollten diesen Staat als unseren Staat betrachten, allerdings nicht nur im Sinne einer hübschen Redensart zur Erbauung, sondern in dem Sinne, dass wir in diesem Staat für das verantwortlich sind, was geschieht. Eine Verfassung mag noch so schön sein - sie ist immer nur ein Angebot, von ihren Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Dass aus Verfassung Staat wird, liegt in unserer Hand. Das haben wir zu bewirken.«
Ich füge hinzu: Menschenwürde und Freiheit werden uns nicht einfach geschenkt. Sie müssen immer wieder erkämpft werden. Die Demokratie bewahrt und stärkt man am besten dadurch, dass man sie bewusst und aktiv lebt - auch und gerade dann, wenn es schwerfällt.
»Haben wir wirklich nichts gelernt?«
Bedrohung der Republik durch den Terror
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