Meine Wut ist jung
Ratzinger, der damals Erzbischof von München und Freising war. Den genannten Personen ging es nie um die Rechtfertigung von Mördern, sondern um Spurensuche. Ich denke auch an Claus Peymann, der als Schauspieldirektor in Stuttgart von Ministerpräsident Hans Filbinger unter Druck gesetzt wurde und schließlich wegen einer Geldsammlung gehen musste: Es ging um einen Zahnersatz für die inhaftierte Gudrun Ensslin .
Die Terroristen sind schließlich nicht vom Himmel gefallen. Sie waren Kinder unserer Gesellschaft - was war fehl gelaufen? Uns interessierten besonders Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die ja aus einem bürgerlich-intellektuellen Milieu stammten. Was war passiert, dass diese Menschen zu Mördern werden konnten? Bereits ab 1977 ließen wir die Lebensläufe der Täter und Täterinnen und die gesellschaftliche Situation in der damaligen Bundesrepublik von namhaften Wissenschaftlern systematisch erforschen. Das Ergebnis wurde in fünf Bänden unter dem Titel »Analysen zum Terrorismus« veröffentlicht - eine ausführliche Zustandsbeschreibung der damaligen Gesellschaft.
Der Münchner Zeithistoriker Johannes Hürter befasst sich heute speziell mit dem Terrorismus jener Jahre. Er sieht mich als Vertreter einer liberalen Gegenbewegung und sagt: »Für diesen Wandel stand der FDP-Politiker Gerhart Baum. Baum begrenzte den ausufernden Fahndungsaktivismus … er suchte den Dialog mit dem Umfeld der RAF sowie mit den Aussteigern.« Hürter weist auch auf die von mir geförderten Forschungsarbeiten hin und kommt zu dem Ergebnis: »So wurden am Ende der sozial-liberalen Ära einige Voraussetzungen für eine andere Antiterrorismuspolitik geschaffen.«
Neben diesen Schwierigkeiten stellt sich die Frage, ob die Stimmungsmache der Bild-Zeitung und anderer Medien und deren journalistische Aufbereitung des RAF-Terrors in den 1970er-Jahren einen Einfluss auf die politische Behandlung dieses Problems hatte?
Die von den Medien aufgeheizte Stimmung hat die politische Diskussion natürlich beeinflusst. Mitunter war es blinder Hass - nicht nur auf die RAF, sondern auf die Reformbewegung insgesamt. Die Bild-Zeitung stand an der Spitze dieser Bewegung. Heinrich Böll hatte ein Büchlein herausgegeben, in dem er die vergiftenden Artikel der Bild-Zeitung zusammengefasst und kommentiert hat. Da kann man ganz genau nachlesen: Jahrelang gab es eine richtige Kampagne. Sie richtete sich gegen die 68er-Bewegung, aber auch gegen die neue Deutschland- und Ostpolitik. Später hat sich das Verlagshaus Springer zum Teil distanziert, der Leitartikler Peter Boenisch hatte sich sogar entschuldigt.
Wie konnte ein Staat mit 60 Millionen Menschen damals so aufgeschreckt reagieren und in derartige Hysterie verfallen?
Da kam einiges zusammen. Nicht wenige Menschen waren durch die Proteste der 68er-Bewegung aufgeschreckt. Es gab zahlreiche und auch gewalttätige Demonstrationen. Vieles wurde infrage gestellt. Aber auch Intoleranz war im Spiel und Hass auf die Liberalen. Dennoch: Die Republik, so kann man sagen, wurde damals noch einmal gegründet. Reformen in vielen Politik- und Lebensbereichen wurden in die Wege geleitet: eine gründliche Auseinandersetzung mit der Nazizeit, die Stärkung der Frau in der Gesellschaft, Chancengleichheit in der Bildung, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Reform des Sexualstrafrechts - um nur einige Punkte zu nennen. Ralf Dahrendorf, der liberale Vordenker, sah in der 68er-Bewegung »einen Modernitätsschub und eine tief greifende Veränderung kulturellen Verhaltens«.
1978 wurden Sie durch den Rücktritt von Werner Maihofer Innenminister. Kam das überraschend oder waren Sie darauf vorbereitet?
Ich war ja bereits Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium - erst bei Genscher und dann bei meinem väterlichen Freund Werner Maihofer, dem ich politisch und persönlich sehr nahestand. Er war einer der Väter der »Freiburger Thesen« von 1971. Er war Wissenschaftler und Strafrechtsprofessor. Für ihn war die Politik eine neue Rolle und er hatte gewisse Schwierigkeiten, seine Überzeugungen mit seinem Regierungshandeln zu vereinbaren. Sein öffentliches Bild belastete zunehmend die FDP. Zuletzt wurden ihm die Abhöraffäre Traube und die sogenannte Schleyer-Panne zum Vorwurf gemacht. Wir erinnern uns: Man hatte Hinweise auf die Wohnung, in der sich Hanns Martin Schleyer zeitweilig befand. Sie wurden nicht verwertet. Das war ein Riesenskandal. In diesem Moment - obwohl er dafür nicht allein
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