Meine Wut ist jung
wissen können, wenn sie wirklich gewollt hätten. Das ist ein richtiger Skandal.
Taten, alle mit einer Waffe begangen - lässt das nicht aufhorchen? Mussten die Ermittler nicht den Zusammenhang erkennen?
Die entsprechenden Informationen sind ja nicht zusammengeführt worden. Man hatte die Personen im Blick - lange Jahre. Man hätte einzelne Taten also verhindern können. Dieses Versagen möchte ich allerdings nicht zum Anlass nehmen - das sage ich als früherer Innenminister ganz bewusst -, um die Sicherheitsbehörden insgesamt zu diskreditieren.
Brauchen wir überhaupt einen Verfassungsschutz? Was muss geschehen?
Wir können auf einen Inlandsgeheimdienst nicht verzichten. Woher bekämen wir sonst die Informationen über alle Formen des politischen Extremismus, über die Bedrohung durch Terrorismus - heute vor allem auch islamistischen Terrorismus. Auch zur Spionageabwehr und zum Geheim- und Sabotageschutz ist er unverzichtbar. Ich plädiere auch dafür, die föderale Struktur beizubehalten, schon um der besseren, weil ortsnahen Kontrolle willen. Bund und Länder sollten sich aber ernsthaft - am besten beraten durch unabhängige Sachverständige - auf Reformen zur Organisations- und Personalstruktur, interne und externe Kontrolle und verbesserten Informationsausstausch verständigen. Die Behörde stand oft im Zwielicht. Das Wichtigste ist jetzt der Aufbau von Vertrauen.
Sie haben in mehreren Reden die seit Jahren laufenden Studien »Deutsche Zustände«, herausgegeben von Wilhelm Heitmeyer, Professor an der Uni Bielefeld, erwähnt. Dort ist festgestellt worden, dass eine relativ hohe Anzahl von Menschen in Deutschland anfällig für rechtes Gedankengut ist.
Das sind wichtige Untersuchungen über die Befindlichkeit unserer Gesellschaft. Es gibt auch noch andere Untersuchungen, die zeigen, dass es ein relativ hohes antisemitisches Potenzial gibt.
Wie erklären Sie sich das?
Wahrscheinlich sind es uralte Ängste, die in jeder Gesellschaft stecken - Überfremdungsängste. Die Zahl der Deutschen nimmt ab, die Gesellschaft verändert sich merklich durch Zuwanderung. Wir werden eine andere Gesellschaft. Es gibt viele Menschen, die diese Tatsachen nicht aktiv aufnehmen, sie nicht bejahen, sie nicht zu gestalten wissen und vor allem nicht als Chance sehen. Wir müssen uns bewusst sein: Es wächst eine neue Gesellschaft heran mit mehr Immigranten, ohne die auch unser Wirtschaftssystem nicht mehr funktionsfähig sein wird. Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft - das ist lange verdrängt worden. Ich hatte in einer Kabinettssitzung seinerzeit Bundeskanzler Schmidt entgegengehalten: Wir sind ein Einwanderungsland. Er widersprach mir.
Fremdenfeindliche Tendenzen schlagen sich auch in dem Zuspruch zu den Thesen von Thilo Sarrazin nieder. Er diskreditiert die muslimischen Immigranten genetisch als Verlierer und Versager, mit der Folge einer Qualitätsminderung für unsere Gesellschaft. Er betreibt die Herabwürdigung, die Diffamierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Dazu hat er hat wissenschaftliche Erkenntnisse für seine Thesen zurechtgebogen. Erschreckend ist, dass er dieses große Echo gefunden hat. Kritiker, die mit guten Argumenten gegen ihn aufgetreten sind, wurden zum Beispiel im Literaturhaus in München, von Menschen aus dem bürgerlichen Milieu niedergebrüllt. Sehr beschäftigen muss uns in diesem Zusammenhang die Feststellung in der Heitmeyer-Studie: »Es gibt eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit - gerade aus der Mitte der Gesellschaft, nicht nur von den Rändern.«
Ist es auch ein Versagen der politischen Klasse, dass wir so eine große Gruppe ausländerfeindlicher Menschen in Deutschland haben?
Dass Sarrazin einen solchen Erfolg hat, kann nicht damit begründet werden, dass dieses Thema lange bei uns tabuisiert worden wäre. Es war längst ein Thema, wie wir mit Immigranten umgehen, was wir von ihnen erwarten und was wir selbst zur Integration beitragen müssen. Aber das ist nicht tiefer in das Bewusstsein der Bevölkerung gedrungen.
Die Politiker haben es bisher nicht geschafft, aktiv für die neue Gesellschaft zu werben, die bei uns entsteht. Hierin liegt sicher eine Mitverantwortung. Und so entstand der falsche Eindruck eines Tabu-Bruches, den Sarrazin angeblich begangen hat.
Haben wir nicht aufgrund unserer Vergangenheit besonderen Anlass, Minderheiten zu schützen?
Natürlich ist es aufgrund unserer besonderen Geschichte unsere Verantwortung, mit Minderheiten tolerant umzugehen und sie zu
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