Meine Wut rettet mich
»hin-gehen« kann – alleine.
„ Beim Gehen entsteht ein Kontakt zu sich selbst. Das löst in vielen Menschen Erschütterungen aus. Pilgern wirkt erschütternd – aber im guten Sinne. ”
Pilgern ist ein spiritueller Prozess und Weg. Was kann sich durch Pilgern in einem selbst verändern?
Viele Menschen, die auf Pilgerwege gehen, haben eine Suchfrage. Diese ist ihnen oft selbst noch gar nicht klar; teilweise verknüpft sich mit ihr gar kein bewusstes Vorgehen, sondern einfach ein Gefühl, getrieben zu sein, oder die Ahnung, dass es nicht so weitergehen kann wie im Moment. Aus diesem Antrieb wenden sich manche Menschen dann an einen Pilgerpastor wie Bernd Lohse. Sie wollen durch Pilgern versuchen, mehr zu ergründen. Und sehr oft entsteht auf ihrer Pilgerreise in ihnen tatsächlich eine neue Klarheit darüber, was sie künftig anpacken und was sie loslassen wollen. Es ist erstaunlich, wie Menschen, die sich mit der Zeit durch Stress und durch das Gefühl, dauernd funktionieren zu müssen, verloren hatten, beim Pilgern zurück zu sich selbst finden. Beim Gehen entsteht, ähnlich wie ich das vom Laufen kenne, wieder ein Kontakt zu sich selbst. Das löst in vielen Menschen Erschütterungen aus. Pilgern wirkt erschütternd – aber im guten Sinne. Mancher ist erschüttert, was er bislang getan hat, oft sogar gegen sich selbst. Pilgern ist auch deshalb ein so intensives, spirituelles Erlebnis, weil sich der Mensch dabei als Teil eines größeren Ganzen erfährt. Das dokumentiert sich unterwegs ganz vielfältig: in Gemeinschaftserlebnissen, in Erfahrungen von Mitmenschlichkeit sowie darin, dass man sich in einer Naturumgebung bewegt, in welcher Gott Botschaften für einen bereithält. Sicher, das sind selbstinterpretierte Aussagen. Aber man fühlt sich zugleich eingebunden in etwas Größeres, in einen Sinnzusammenhang. Ein Beispiel ist die Gruppen-Pilgerreise, die Bernd Lohse im Sommer 2010 auf dem Olavsweg 98 gemacht hat. Alle gingen in einer kargen, naturgemäß schwierigen Gegend gemeinsam eine Strecke ihres Lebenswegs; die Erfahrung mit der sie umgebenden Natur verband sich mit der Erfahrung ihrer eigenen Natur. Ich finde das beeindruckend.
Im Jahr 2006 erschien der Pilgerbericht des Entertainers Hape Kerkeling 99 »Ich bin dann mal weg«. Das Buch belegte 100 Wochen lang Platz eins der Sachbuchbestsellerliste. Die Zahl der deutschen Pilger stieg 2007, im Jahr nach Erscheinen des Buches, im Vergleich zum Vorjahr um 71 Prozent auf 14 000 Personen. Das Buch hat sicher dazu beigetragen. Doch das kann nicht der einzige Grund sein, dass Pilgern zu einem Trend wurde, der bis heute anhält. Worauf führen Sie diesen zurück?
Viele Menschen sind auf der Suche nach sinngebenden Strukturen und nach einem Raum der Ruhe inmitten der dauernden Beanspruchungen. Unsere Gesellschaft definiert sich stark über Quantität: Wie viele Kilos wiegt einer, wie viele Freunde hat er, wie viele Statussymbole? Bei Pilgern, denen übrigens nicht selten der kirchliche Kontext fremd ist und die sich mit unserer christlichen Tradition gar nicht auskennen, erlebe ich, dass sie bewusst den Schritt gehen hin zu einer Lebensqualität, die mehr umfasst als das, was ich selbst tun, denken und gestalten kann. Das Gefühl der eigenen Endlichkeit und der eigenen Grenzen löst bei vielen Ängste aus, gleichzeitig aber auch das Bedürfnis, dem, was hinter den Dingen ist, auf die Spur zu kommen. Ich selbst bin übrigens letztlich durch Hape Kerkeling darauf gekommen, diese Pilgerbewegung wieder gezielt in die Kirche hineinzuholen, speziell in unsere evangelische Kirche, und habe dann gezielt Spendenmittel eingeworben, um die Pfarrstelle für einen Pilgerpastor einrichten zu können. Pilgern ist dabei durchaus eine ökumenische Bewegung.
Protestanten sagt man eine, im Vergleich zu Katholiken, beträchtliche Distanz zur Spiritualität nach. Weshalb passt, Ihrer Ansicht nach, ausgerechnet der spirituelle Prozess des Pilgerns so gut zum Evangelisch-Sein? 100
Weil das evangelische Grundkonzept das der Freiheit ist. Das heißt, sich in jeder Hinsicht auseinanderzusetzen: mit dem eigenem Gewissen, mit dem eigenen Glauben, mit dem, was von außen an einen herangetragen und von innen heraus beantwortet werden muss. Diese Auseinandersetzung braucht Räume. Dass man diese auch er-»gehen« kann, indem man pilgert, entspricht für mich einer stimmigen, evangelischen Haltung. Diese hat Tradition, das wird oft vergessen: Die Jacobi-Kirche hat sich über
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