Meine Wut rettet mich
Daraus wuchs in mir schnell der Wunsch, Pastorin zu werden.
Sich selbst zu befreien, ist die eine Sache. Aber warum musste das zugleich ein Berufsziel werden?
Weil zusätzlich das attraktive Bild eines Gemeindepastors entstanden war. Der junge Pastor stand für einen Generationswechsel damals, in den Siebzigern und Achtzigern. Er repräsentierte jene, die zeigten, dass man ein solches Amt mit Würde versehen und gleichzeitig mitten im Leben stehen kann, indem man Menschen seelsorglich begleitet und Trauernde stützt, also in allem beisteht, was man in einer kleinstädtischen Umgebung so erlebt. Dieses Berufsbild hat mich beeindruckt. So etwas wollte ich auch machen.
In welcher Situation haben Sie an Ihrer Entscheidung gezweifelt?
Gleich im ersten Semester. Das lag am Graecum. Und an einem systematischen Oberseminar, an dem ich gleich zu Beginn meines Studiums teilnahm, weil ich wissen wollte, worum es denn wirklich geht. Aber das war so abgehoben! Hegel und was nicht alles. Ich hatte davon natürlich gehört, dennoch war ich enttäuscht und dachte: Das ist ja ein ganz anderer Planet, ich bin total weit von denen entfernt. Ich war durchaus philosophisch oder theologisch interessiert, aber ich verstand diese Sprache nicht. Immerhin reichte mein Selbstbewusstsein so weit, dass ich dachte: »Das hier ist noch nicht das Richtige. Aber du findest einen Weg.«
Wie?
Ich ging sofort in die Praxis. In Hamburg erhielt ich durch gute professorale und auch pastoralpsychologische Unterstützung die Gelegenheit, alle Seelsorgefelder von der Pike auf kennenzulernen. Ich bin mit 19 Jahren ins Krankenhaus gegangen und absolvierte einen Seelsorgekurs, bin danach in die Urlauberseelsorge, in die Psychiatrie, in den Strafvollzug in Fuhlsbüttel gegangen. Das sind alles Bereiche, in denen man mit Grenzsituationen von Menschen in Berührung kommt und sehr, sehr viel über das Leben selbst lernt. Auf diesem Weg habe ich später auch den tiefen Sinn systematischer Theologie begriffen. Denn in dem Moment, in dem man wirklich mit dem Leben und dem Tod konfrontiert ist, erhalten Begriffe wie beispielsweise »ewiges Leben«, die ansonsten ein abgeschlossenes Haus sind, elementare Relevanz.
„ Seelsorge umfasst Nähe und zugleich ein Verlassen-Müssen. ”
Welche Begegnung in der Krankenhausseelsorge berührte Sie besonders?
Die allererste Begegnung mit einer Sterbenden. Sie war so alt wie ich damals, 19 Jahre, und sie quälte sich ganz furchtbar. Sie litt unter einem Hirntumor, der nach außen trat. Ich kam in ihr Zimmer, den Kopf voller Seelsorgetheorie – Carl R. Rogers und so weiter. Mir war sofort klar: Das hilft mir jetzt gar nichts. Sie hatte nur noch wenige Tage zu leben, konnte nicht mehr sprechen. Die eine Hand konnte sie nicht mehr bewegen, die andere bewegte sich immer. Es schien, als »spreche« die Hand in einer eigenen Sprache. Instinktiv nahm ich diese Hand, und es entstand Kontakt zwischen uns, nur über diese Berührung. Sie konnte mich nicht sehen. Ich habe versucht, ihr irgendwie verständlich zu machen, wer ich bin. Gefühlt war mir so, als hätten wir uns drei Tage an den Händen gehalten. Ganz am Schluss, wenige Stunden ehe sie starb, streichelte sie einen meiner Finger ein bisschen, so wie sie das noch konnte. Das war so tröstend – für mich. Gar keine Frage, wer da wen tröstete. Diese Berührung spüre ich heute noch. Ich habe damals aber auch begriffen: Seelsorge umfasst Nähe und zugleich ein Verlassen-Müssen. Es gibt einen Punkt, an dem man sich wieder trennt. Sterben musste sie allein. Man kann begleiten bis an eine bestimmte Stelle, dann gibt es so etwas wie eine Abschiedsgeste und man geht auseinander.
Im Strafvollzug hingegen hatten Sie es mit Menschen zu tun, die Schuld auf sich geladen haben.
Diese Menschen sind oft verzweifelt, und zwar wegen sich selbst, nicht wegen der äußeren Schuldzuweisungen oder aus juristischen Gründen. Sie halten sich selbst nicht mehr aus. In der Weihnachtszeit sind wir von Zelle zu Zelle gegangen und haben ihnen Tabak, Kerzen und Kalender gebracht. Was sich da abspielte an Trauer und Verlorenheit, und wie mit einer solchen Geste Menschlichkeit in die Zellen hineinkam! Ich empfand es als Geschenk, das erleben zu dürfen.
In welcher Situation haben Sie an Ihrem Glauben gezweifelt?
Der Zweifel gehört für mich zum Glauben. Ich muss mich damit auseinandersetzen, wie es sein kann, dass Christus Gott und Mensch zugleich ist. Oder ob es eine Auferstehung wirklich
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