Meine Wut rettet mich
Mitteldeutschland vorsteht.
Kirsten Fehrs tritt in Nordelbien in die Fußstapfen von Maria Jepsen, der weltweit ersten lutherischen Bischöfin und ersten Bischöfin einer christlichen Kirche in Europa. Als am 4. April 1992 die damals 47-jährige Theologin Jepsen berufen wurde, erbleichten manche Männer. Der (evangelische!) Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus wähnte »eine der schwersten geistlichen Katastrophen«, ein Satz, mit dem er oft zitiert wurde. Der Spiegel (16/1992) hingegen fand, die Wahl einer Frau in ein solches Amt sei überfällig – gerade in einer Kirche, in der 42 Prozent der Theologiestudierenden, 35 Prozent der Vikare und 70 Prozent der Hauptamtlichen im kirchlichen Dienst weiblich seien, Frauen in den Führungsetagen aber nicht einmal auf einen Anteil von einem Prozent kämen. Die Einstellungen sind heute, zwanzig Jahre später, etwas offener. Hinter vorgehaltener Hand wurde dennoch vermutet, das Fernbleiben von 19 Synodalen hänge damit zusammen, dass ausschließlich Frauen zur Wahl standen.
Jepsen stammt aus demselben Landkreis wie Fehrs, aus Dithmarschen. Beide finden, Kirche müsse auch politisch Position beziehen und den Glauben im Alltag erlebbar machen. Der Rücktritt von Maria Jepsen im Juli 2010 warf auch auf Fehrs’ Bischofsfest einen Schatten. Betroffene von Fällen sexualisierter Gewalt protestierten im Kirchhof. Ihnen dauerte die Aufklärung zu lange. Maria Jepsen warfen sie Untätigkeit vor im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen gegen einen Pastor in Ahrensburg. Der mittlerweile pensionierte Geistliche hatte in den Achtzigerjahren Jungen und Mädchen missbraucht. Die Schwester eines der mutmaßlichen Opfer behauptete in einer eidesstattlichen Versicherung, sie habe im Jahr 1999 am Rande eines Kongresses Jepsen darüber informiert; die für Ahrensburg zuständige Pröpstin will Jepsen im selben Jahr mündlich auf die Übergriffe des Pastors hingewiesen haben. Offenbar erst, als eine Betroffene im März 2010 im Sog der zahlreichen bekannt gewordenen Missbrauchsfälle aus kirchlichen und nichtkirchlichen Kreisen den Fall öffentlich machte, übergab man ihn der Staatsanwaltschaft. Die Vorwürfe veranlassten Jepsen zurückzutreten. Strafrechtlich sind die Vorgänge anscheinend verjährt, ein weiterer Punkt, gegen den sich der Protest vor dem Eingang zum Lübecker Dom richtete. Diese Menschen hoffen nun, dass »die Neue« zupackt und handelt.
Bischöfin Fehrs kündigte genau das beim traditionellen Adventsempfang in der Hauptkirche St. Jacobi am 8. Dezember 2011 an, und zwar über drei Zugänge: Sie will neben der juristischen Aufarbeitung auch eine psychologische, um in Gesprächen mit Experten die Versäumnisse und Fehler der Kirche zu begreifen. Sie will sich zweitens im April 2012 gemeinsam mit Bischof Ulrich in einem Gottesdienst und einer Gemeindeversammlung allen Fragen stellen und drittens außerhalb der Öffentlichkeit das seelsorgerische Gespräch mit Betroffenen suchen. Und sie bat »in aller Form um Verzeihung«, dass die Fehler und Versäumnisse überhaupt geschehen konnten.
Der Adventsempfang ist in Hamburg ein gesellschaftliches Ereignis. Die Bischöfin nutzte diesen ersten großen offiziellen Auftritt, um fünf Marksteine zu benennen, die sie in ihrer ersten Amtszeit setzen will: Erstens will sie sich aktiv gegen sexualisierte Gewalt engagieren, zweitens gegen die Armut von Kindern, drittens gegen die Armut generell und viertens speziell gegen die religiöse Armut. Wer »metaphysisch obdachlos« sei und allen Glauben verloren habe, sei anfällig, in der Seele krank zu werden, Depressionen oder Erschöpfungssyndrome zu erleiden. Und fünftens: Brücken bauen zwischen den Menschen, besonders hin zu jenen, die an den Rand gedrängt werden, beispielsweise weil sie behindert sind. Die Art, wie sie den SPD-Senat und seine Arbeitsmarktpolitik kritisiert, belegt: Sie will politisch ihre Stimme erheben und zugleich die Hand anbieten: »Lassen Sie uns gemeinsam nachdenken.«
Diesen Stil pflegt sie auch in ihrer Kirche. Sie kritisiert jene, die Kirche als reinen Servicebetrieb sehen und sie »schonen«, wenn nicht gerade eine Taufe oder eine Hochzeit ansteht. Aber sie gibt sie so wenig verloren wie jene, die den Glauben ganz vergessen haben, und jene, die in irgendeine Not geraten sind, sich ausgegrenzt fühlen. Sie will ihnen allen die Hand reichen, sie mit einer »Herzenssprache«, wie sie es nennt, berühren. Doch das genügt ihr nicht. Sie sehe manches, das
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