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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlis Prinzing
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Bischöfin hier präsent ist. Denn die Hansestadt verlor im Zuge der Nordkirchendebatte ihren Bischofssitz 101 . Durch die Fusion der Landeskirchen Nordelbien, Mecklenburg und Pommern an Pfingsten 2012 zu einer gemeinsamen Nordkirche 102 werden Dialog und Brückenbau noch zentraler. Ein historisches Ereignis, denn hier gehen sozusagen Ost- und Westkirche zusammen. Das wird eine vielfältige Integrationsleistung verlangen, die möglicherweise viele so noch nicht sehen. Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen?
    In den östlichen Kirchen besteht eine missionarische Aufgabe darin, das Christentum im säkularen Kontext zu leben. Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, wie wir das gemeinsam bewältigen. In Hamburg, in St. Jacobi, hatten wir ein zumindest ähnliches Thema: Was erleben Menschen, die sich von der Kirche abwenden und mit kirchlicher Tradition schon gar nichts mehr verbinden können? Wir können vermutlich von den Kirchen in Mecklenburg und Pommern lernen, wie man sich in einem säkularen Umfeld als Kirche stabil positioniert und sich zeigt. Wir müssen gemeinsam auf Themen kommen. Ich kann im Moment noch nicht genau identifizieren, welche das sein könnten. Jedenfalls dürfen wir nicht mit der Einstellung herangehen, die Nordelbische Kirche unterstütze die beiden anderen Kirchen finanziell, das Ganze sei also eine Art Entwicklungshilfevorhaben. Tatsächlich stecken in dem Zusammenschluss Chancen für alle drei Kirchen.
    „ Der Ostdeutsche sagt: »Ich bin Christ.« Der Westdeutsche sagt: »Ich bin in der Kirche.« ”
    Worin unterscheidet sich ein ostdeutscher Christ von einem westdeutschen?
    Der Ostdeutsche sagt: »Ich bin Christ.« Der Westdeutsche sagt: »Ich bin in der Kirche.«
    Sie stellen also die institutionelle Bindung der volkskirchlichen Verwurzelung gegenüber. Was verstehen Sie unter einer volkskirchlichen Bindung?
    Hinter der volkskirchlichen Wahrnehmung steckt, kurz gesagt, die Einstellung: »Ich bin in der Kirche, aber ich brauche sie nicht. Ich möchte nicht zu den mühselig Beladenen gehören, will aber eine Kirche in meinem Dorf, denn sie ist unglaublich wichtig für die Übergänge im Leben: Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung.« Da wird mehr oder weniger bewusst der Segen Gottes eingefordert. Ansonsten kann ich die Kirche auch »schonen«, charmant formuliert. Zumindest auf dem Land ist dieses Gefühl, in der Biografie volkskirchlich eingebunden zu sein, für viele selbstverständlich; in der Stadt muss man das sicher differenzieren. Sich offen zu bekennen und zu begründen »Ich bin Christin, ich bin Christ, weil …«, ist ungewöhnlich. Ich könnte mir vorstellen, im Osten ist dies anders oder zumindest anders gewesen. Da war man ja durchaus herausgefordert, sich ausdrücklich zum Christentum zu bekennen.
    … und zwar oft auch gegen Widerstände. Auch das erklärt eine andere Sozialisation als die, die Christen im Westen Deutschlands haben.
    Komplett. Leipzig steht beispielsweise für einen politischen Widerstand, der von den Kirchen initiiert wurde. Was Christian Führer dort unter anderem mit den Montagsgebeten auf den Weg brachte, ist für uns als protestantische Kirche ein Ausdruck der Befreiungskraft des Evangeliums. Aber das war sicher nicht überall gleich.
    Was brachte Sie persönlich auf den Weg des christlichen Glaubens?
    Ich bin volkskirchlich aufgewachsen. Durch und durch. Also: Kindergottesdienst, Konfirmandenunterricht – das ganz übliche Hineinwachsen. Und ich fühlte mich als Jugendliche mit einem Rollenthema versehen: Mein Vater war Bürgermeister. In einem Dorf guckt man ganz besonders auf die Kinder, deren Eltern besondere Rollen haben: »Sitzt die Schleife richtig? Sind die Lackschuhe geputzt?«, und so fort. Als Jugendliche hatte ich Schwierigkeiten, neben diesen Rollenerwartungen meine Identität zu finden. In der Kirche fand ich den Raum, in dem ich herausfinden konnte, wer ich als Mensch war, welche Potenziale und Gaben ich hatte, und welche nicht. Es gab einen jungen Pastor, der sein Haus öffnete für uns Junge in der Gemeinde. Hier fand ich einen Raum ohne Rollenerwartung, konnte einfach Freude haben, Karten spielen, mich selbst hinterfragen und Fragen stellen, die mich und die uns umtrieben: Gibt es Gott? Warum lässt er zu, dass so viel Unglück geschieht? Es ging uns gar nicht nur um die Antworten, wir wollten ernst genommen werden als diskursfähige Menschen. Und genau das tat dieser Pastor. Diese Erfahrung war für mich der Befreiungsschlag.

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