Meine Wut rettet mich
die Anfänge, der Impuls, der dann sozusagen den Weg vorgibt und in dem die Dynamik einer Rede steckt. Das Schwierigste bei Predigten sind ja die Anfänge. Anfänge sind im Leben überhaupt das Schwierige. Ich möchte in meinen Predigten eine Situation und Menschen in bestimmten Situationen verbinden mit biblischen Texten oder mit Anlässen. Es ist einfach immer aufs Neue ein Glücksumstand, wenn einem dazu eine neue Idee kommt, im wahrsten Sinne des Wortes ein Geistesblitz, der hilft, diese Verbindung zu schaffen. Dass dies immer wieder beim Laufen geschieht, hat mit dem Atmen zu tun und damit, dass man auch in einer inneren Bewegung ist. Bei mir jedenfalls hat die Bewegung der Gedanken auch mit der Bewegung des Körpers zu tun. Nachher muss ich mich dann gleich an den Schreibtisch setzen und diesen Impulsen eine Form geben.
Nutzen Sie diesen Effekt auch umgekehrt? Laufen Sie also los, wenn Sie eine Idee benötigen? Oder länger, wenn Sie mehr Impulse wollen?
Ich könnte zwar notfalls einen Halbmarathon laufen. Aber das ist gar nicht Sinn der Übung. Man muss sich auch darauf einstellen können, dass man überrascht wird. Unter Umständen auch von der Leere. Man kann das nicht erzwingen, Laufleistung und Denkleistung passen nicht immer zusammen. Wenn mir nichts einfällt und ich dann loslaufen würde, könnte ich nicht garantieren, dass ich mit einer Idee zurückkomme. Aber es lösen sich meistens Blockaden.
Sie haben erzählt, dass Sie Ihr Laufpensum in Atemzug-Schritt-Pakete einteilen. Wie viele Tausender-Pakete sind Ihr tägliches Mindestpensum?
Mindestens fünf, also fünftausend Schritte. Das sind ungefähr fünf Kilometer, eine knappe halbe Stunde dauert das. Es darf aber gerne auch mehr sein.
Ihr neues Bischofsamt umfasst den Sprengel Hamburg und Lübeck. Die beiden Hansestädte liegen 60 Kilometer auseinander. Sind Sie schon von Hamburg nach Lübeck gelaufen oder umgekehrt?
Nein. Aber das ist eine schöne Idee.
Diese Strecke ist auch Teil der Via Baltica und damit des rund 3000 Kilometer langen Pilgerwegs nach Santiago de Compostela, und gehört seit 2008 wieder offiziell zu den Sternenwegen 95 . An diesem Weg wurde vor über 750 Jahren St. Jacobi gegründet. Diese Kirche, an der Sie bis zu Ihrer Berufung als Bischöfin wirkten, ist durch ihren Schutzpatron Jacobus seit jeher eine Pilgerkirche 96 . Sie ist ein Knotenpunkt zwischen nordischen Wegen und Wegen auf dem europäischen Festland, und hier arbeitet seit 2008 der erste Pilgerpastor der Nordelbischen Kirche, Bernd Lohse 97 , der regelmäßig Pilgergruppen führt. Waren Sie auch schon dabei?
Seine Anstellung in St. Jacobi war für mich Anlass mitzupilgern. Ich habe das aber bislang aus Zeitgründen nur über eine kürzere Strecke geschafft. Das war tatsächlich etwas sehr Besonderes.
Pilgern ist anders als Laufen, das ergibt sich aus den Worten: Man läuft nicht, man geht, macht sich auf den Weg. Aber das führt uns nur auf den äußeren Unterschied. Worin besteht für Sie der wirkliche Unterschied?
Durch das Gehen ist zwar auch etwas Sport dabei, aber beim Pilgern geht es viel intensiver um die inwendige Bewegung. Und um Ruhe, um Stille. Zwischendurch gibt es Stationen des Schweigens. Es gibt sogar Schweigewege. Pilgern verbindet vielerlei: Momente des naturumgebenen Gebets. Momente, die durch ein biblisches Wort unterstrichen werden. Eindrücke aus dem, was sich in einem selbst abspielt. Was ich da erfahren habe, schon auf den kurzen Strecken, das habe ich als Erlebnis empfunden. Ich laufe ja regelmäßig, um zu einer Ausgeglichenheit zu kommen; auch das Laufen hat spirituelle Elemente. Wenn ich aber auf einen Pilgerweg gehe, verabschiede ich mich auf weit längere Zeit, oft auf Tage oder Wochen, aus dem Alltäglichen.
Wer pilgert, sucht zugleich meist nach Sinn und nach sich selbst. Oft machen sich Menschen aber nicht alleine auf den Weg, sondern in Gruppen. Inwiefern ist dies ein Widerspruch?
Gar nicht. Ich halte das Pilgern in einer Gruppe für eine faszinierende Mischung aus inniger Gemeinschaft, durchaus auch von Leuten, die sich bis dahin nicht kannten oder die sonst wohl nie im Leben etwas miteinander zu tun gehabt hätten, und einer sehr beschaulichen Einsamkeit. Das Phänomen ist: Man erlebt intensive Gespräche, kann sich aber auch immer wieder absentieren in der Gruppe, ohne dass dies ein Problem wäre. Es besteht kein Gruppendruck, sondern es entsteht ein erlaubter Raum, in dem ich mich selbst »er-gehen« und zu mir
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