Meine Wut rettet mich
allein mit ihren existenziellen Fragen nach einem sinngebenden Ganzen, sie haben keinen Anknüpfungspunkt für Antworten. Viele haben schon einiges ausprobiert, saßen in Pendelkursen und in Meditationsgruppen, suchten Antworten in der Esoterik. Sie fanden dort aber nicht die geistige Auseinandersetzung mit dem, was ihnen am Herzen liegt und was das Geheimnis des Lebens ausmacht. So schildern sie das. In der protestantischen Kirche gibt es diese intellektuelle Auseinandersetzung in der Predigt, aber auch im theologischen und gesellschaftlichen Diskurs außerhalb des Gottesdienstes.
Wie ist es bei Konvertiten?
Jene, die katholisch waren, haben oft eine andere Geschichte. Sie suchen nicht generell, sondern sie wenden sich bewusst von einer katholischen Glaubenspraxis ab und einer evangelischen Kirchengemeinde zu. Mancher formuliert dann überspitzt, die Liturgie sei vor allem Inszenierung und wenig wahrhaftig. Über die protestantische Kirche hört man ja eher die gegenteilige Kritik: Sie ist manchen zu abgehoben und intellektuell, biete zu wenig fürs Herz. So oder so, es kommt immer auf die einzelnen Menschen und ihre jeweiligen Erfahrungen an.
„ Die Frage der Vergebung ist die große Herausforderung unserer protestantischen Theologie. ”
Was bedeutet Vergebung?
Die Frage der Vergebung ist die große Herausforderung unserer protestantischen Theologie. Wir sagen ja: »Wir leben aus Gnade. Die Gnade steht vor allem, was auch immer du tust.«
Anders Breivik tötete im Sommer 2011 in Norwegen 80 Menschen und nannte das ein christliches Exempel, das er angeblich statuieren musste. Zweifellos ist das krank. Mich interessiert: Wie sehen Sie hier die Herausforderung an den Christenmenschen zu vergeben?
Eine der größten Herausforderungen für uns als Christen ist, auch in einem Fall wie Breivik zu sagen: Gott vergibt. Ich bin der Meinung, dass solche Vergebung aber niemals hinter dem Rücken der Opfer passieren kann. Sie schließt Einsicht ein und einen Prozess bei denjenigen, die Opfer wurden. Das ist untrennbar. Ich gebe zu: Dass jemand wie Breivik sich selbst in dieser wahnhaften Art als Vollstrecker göttlicher Macht fühlt, ist eine Art Fanatismus, die mich dermaßen erschüttert und erschreckt, dass ich große Mühe habe zu sagen, ich würde ihm vergeben. Ich muss ehrlich sagen, da gibt es für mich eine innere Grenze.
Was bedeutet »Schuld«?
Zu allererst: erkennen, dass ich welche auf mich geladen habe. Im globalen wie im wirtschaftlichen wie im persönlichen wie im kriminellen Kontext ist die größte Hürde, dass einer seine Schuld sieht und anerkennt, verstrickt zu sein und anderen Schaden zugefügt zu haben. Verbunden mit dem Wunsch, etwas zu ändern, macht dies den Menschen menschlich und ist für mich eine der erwachsensten Verhaltensweisen. Denn die meisten Menschen versuchen, ihrer Schuld zu entgehen, sie zu verleugnen oder zu verdrängen. Es ist ja menschlich, dass man sich der Scham über sich selbst nicht aussetzen mag. Keine und keiner bittet einen anderen wirklich gerne um Verzeihung, doch wenn ich es mache, dann sollte dies wahrhaftig geschehen, indem ich hingucke, woran ich wirklich beim anderen schuldig geworden bin.
Ist das Anerkennen von Schuld Voraussetzung für Gnade?
Gnade ist für uns Lutheraner voraussetzungslos. Sie ist ein Geschenk Gottes. Leben an sich ist Gnade. Gnade ist ein Glück, ein Moment der Versöhnung. Gnade können wir Menschen nicht selbst herstellen und auch nicht befördern, wir können sie nur erleben. Gebe ich zum Beispiel meine Schuld zu, womöglich sogar gegenüber derjenigen, bei der ich etwas angerichtet habe, dann ist Gnade, wenn sie diese Entschuldigung tatsächlich annimmt. Gnade verbindet sich mit Dank und Dankbarkeit. Das drückt sich auch aus im lateinischen deo gratias – Gott sei Dank. Im Gästebuch in St. Jacobi ist gratias der Begriff, der am häufigsten vorkommt – gratias für Gnade und Dank: »Ich danke, dass ich gemacht bin«, »Ich danke, dass ich das erleben durfte«, »Ich danke für die Begegnung«, »Ich danke dir für diese schöne Orgel«. Dieses Gästebuch ist voll von Dankbarkeit für das, was Menschen in ihrem Leben erleben durften, für das, was ihnen geschenkt wurde. Für etwas, das man sich nicht selbst schenken kann und das auch kein anderer einem schenken kann. Ein Geschenk Gottes. Weil das so ist, benötigen viele Menschen einen Ort, zum Beispiel die Kirche, einen Lichterbaum oder ein solches Gästebuch, wo sie dem Ausdruck
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