Meine Wut rettet mich
die Konflikte?
Soziale Spannungen sind gesellschaftlicher Zündstoff. Wir müssen mitwirken, dass sich die Verhältnisse ändern. Nicht als moralische Instanz, die immer den anderen sagt, was sie nicht gemacht haben, sondern gemeinsam und zupackend. Runde Tische 104 sind ein probates Mittel. Ich erlebte sie in Hamburg als Segen. Weil Geschäftswelt, Handelskammer, Polizei, Diakonie, Streetworker und Kirche sich dort versammelten und gemeinsam konkrete Maßnahmen überlegten, konnten wir psychisch erkrankten Obdachlosen wertvolle Hilfe geben. Dennoch bleibt viel im Argen. Ich weiß von obdachlosen Frauen, die mit ihren Einkaufswagen, in die ja ein ganzes Leben gepackt ist, immer wieder vor die Kirche fahren, sich aber nicht trauen zu fragen, ob sie Unterstützung bekommen, oder von vielen verwahrlosten Kindern, besonders im Hauptbahnhofsviertel.
Wie veranschaulichen Sie diesen Konflikt zwischen »Arm und Reich« noch?
Durch Zeichenhandlungen. Zum Beispiel, indem wir gemeinsam mit gut situierten Bürgern, die sich sozial engagieren möchten, öffentlich auftreten und damit aktiv ein Zeichen setzen. Denn wir spüren in unserer Gesellschaft schon fast so etwas wie eine Beschimpfung von Leuten, die es gut meinen, denen aber unterstellt wird, sie würden es schlecht machen. Wir müssen dieser Entwertung des »Gutmenschentums« entgegentreten. Wir haben als Kirche die Kraft, eine gesellschaftliche Gegenströmung aufzubauen, gemeinsam mit der Diakonie, und zu veranschaulichen, welchen Sinn diese Aktionen haben und welche Gräben sich durch sie überwinden lassen. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt »Seitenwechsel«, wo Menschen bewusst in die Jacke eines anderen schlüpfen. 105 Einer, der die Designerjacke gegen die Jacke der Bahnhofsmission getauscht hatte, erzählte, wie man durch solche an sich kleinen Veränderungen plötzlich in andere Welten gelangt und feststellt, dass man viel weniger über »die anderen« weiß, als man dachte. Man sieht sich plötzlich gnadenlos mit dem Scheitern und dem Unglück konfrontiert, mit Menschen, deren Leben immer verkehrt läuft, trotz ihrer Sehnsucht, dass alles in gerade Bahnen kommt.
„ Die Kirche ist nicht nur Zufluchtsort, sie ist auch gesellschaftliche Stimme derer, die sich sonst nicht äußern können. ”
Welche Funktion hat da die Kirche? Sie ist sicher ein Zufluchtsort. Aber genügt das?
Sie ist nicht nur Zufluchtsort, sie ist auch gesellschaftliche Stimme derer, die sich sonst nicht äußern können. Wir erleben hier jeden Tag vor der Haustür, was es heißt, obdachlos zu sein, und wie dies dem Leben die Würde raubt. Menschen, die sich das nicht vorstellen können, muss man es erst einmal erzählen. Ich habe beispielsweise bei einem Städtekongress, der sich unter anderem mit dem Thema »Saubere (!) Innenstadt« beschäftigte, darüber einen Vortrag gehalten. Ich habe erzählt, wie Menschen auf der Straße leben und manchmal sogar sterben und wie es gelingen kann, dass Geschäftsleute und Obdachlose sich arrangieren. Es war mäuschenstill im Raum. Die Zuhörer fühlten sich ein in die Situation von Menschen, die unter Armut leiden, sie machten sich ein Bild, das sie beim Betrachten von Statistiken zu Einkommensverhältnissen und Wohnungsnot nie gewinnen würden. Kirche muss solche Bilder vermitteln.
„ Dort, wo die Würde des Menschen angetastet wird, muss die Kirche aktiv werden. ”
Und dann? Muss die Kirche, Ihrer Ansicht nach, als Stimme in der Gesellschaft Erwartungen formulieren, was zu tun ist? Muss sie Politik betreiben?
Dort, wo die Würde des Menschen angetastet wird, muss die Kirche aktiv werden. Das kann politisch aktiv bedeuten, genauso aber auch diakonisch und seelsorglich. Es geht um Parteinahme, aber nicht darum, Parteiinteressen zu verfolgen; darauf achte ich. Wir können nicht schweigend hinnehmen, wenn vor den Grenzen Europas mehrere Tausend Flüchtlinge ertrinken und sich in Somalia eine Hungerkatastrophe größten Ausmaßes ereignet. Oder wenn in Hamburg ein Zaun gebaut wird, um Obdachlose auszugrenzen. 106 Da müssen alle die Stimme erheben und da erhebe ich meine Stimme mit dem Impuls: »Wie können wir hier gemeinsam zu einer Lösung finden?« Und zwar wiederum nicht, um sich moralisch zu erheben. Sondern um konkret zu helfen.
Margot Käßmann, damals Bischöfin in Hannover, kritisierte in ihrer Neujahrspredigt am 1. Januar 2010 in der Frauenkirche Dresden die Bundeswehreinsätze in Afghanistan. Ihr wurde deshalb auch vorgeworfen, sie
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