Meine Wut rettet mich
Rituale gliederten den Tag. Sein Vater, ein Schneider, war bei seiner Geburt bereits zur Wehrmacht eingezogen. Werner kannte ihn als kleines Kind nur von einem Heimaturlaub sowie aus den täglichen Fürbitten gemeinsam mit der Mutter. Er war schrecklich eifersüchtig, als dieser »fremde Mann« 1947 aus der Gefangenschaft zurückkam und er sich die Mama mit ihm »teilen« musste. Damals war Werner bereits in der Schule. Das hatte er sich mit Gezeter ertrotzt. Er war kleiner als Gleichaltrige und kränklich. Deshalb hätte ihn die Mutter lieber ein Jahr später eingeschult. Werner war stets wissbegierig, er liebte das Lernen. Eigentlich mehr, als die Familie es sich hätte leisten können. Doch man fand immer Wege und Unterstützung, auch für den Schulbesuch in Sankt Ottilien. Er bedankte sich dafür, indem er fleißig war. Wenn seine Leistungen schwankten, dann wegen der Neigung, vielerlei nebenbei zu machen – Theater, Musik, eine Art Jugendgruppe … Kurz vor dem Abitur zog er die Reißleine, konzentrierte sich auf die Prüfungen und schaffte den Abschluss mit Eins.
Jeder Zweite im Jahrgang trat nun ins »große Kloster« über. Für Werner stand die Entscheidung nie infrage. Als Zeichen des Abschieds vom bisherigen sozialen Umfeld musste er den Namen »Werner« nun ablegen. Er wählte Notker als seinen Ordensnamen, nach einem musischen Mönch aus Sankt Gallen. Wieder lernte er viel, wieder fügte er sich ohne große Mühe ein in einen klaren Tagesablauf, ordnete sich klaren Hierarchien unter. Die große Stille im Kloster war neu für ihn. Sie schien ihm schier unbändig – auf den Gängen, beim Essen, in der Kirche … Die harte Schule sollte lehren, es mit sich selbst auszuhalten, und durch die von den Lehrmeistern erzwungene Disziplin letztlich die Selbstdisziplin reifen lassen. Das konnte er einsehen, anderes störte ihn: die neuerliche Dauerkontrolle, sogar Briefe von zu Hause durften von den Oberen gelesen werden. Die Kälte. Strafen, bei denen mitunter Demut und Demütigung verwechselt wurden. Kurzum: Er vermisste die Menschenliebe und Lebensweisheit Benedikts. Weil er sich an das Original hielt, zweifelte er aber nicht an seinem Weg. Doch er sehnte die Zeit herbei, in der er sich nicht mehr ducken müsste, sondern gehört und gefragt sein würde.
Der Novizenmeister verbaute ihm den direkten Weg dorthin: Er sei körperlich nicht stabil genug für die Mission. Aus der Traum. Also gut, tröstete sich Notker, dann würde er eben Missionare ausbilden, statt Missionar zu sein. Er würde studieren, so wurde ihm mitgeteilt, in Rom, in Sant’ Anselmo. Philosophie. Nicht seine erste Wahl.
Eine neue Variante des Unterordnens begann. Doch mittlerweile war Notker selbstbewusst genug, sich immer mehr kleine Freiheiten und Freiräume einzurichten: Er entdeckte die Rockmusik, die Reize Latiums und den Wein, meistens gemeinsam mit den Fratres Hieronymus und Herbert, seinen besten Freunden schon aus Sankt Ottilien, die ebenfalls nach Rom zum Philosophie-Studium geschickt worden waren. Kaum angekommen, waren sie Zeuge des Einzugs der Bischöfe in den Petersdom, am 11. Oktober 1962, zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Dort sollten in den folgenden drei Jahren Instrumente geschmiedet werden, die (auch) Notker Wolf helfen würden zu korrigieren, was sich im Klosteralltag zwar eingebürgert hatte, aber seiner Auffassung nach der Ordensregel gar nicht entsprach. Sein Jahrgang war eine Art 68er-Klostergeneration. Er wagte, zumindest zaghaft, Protest, stieß aber allenfalls auf Schweigen, nicht auf die Bereitschaft zum Dialog.
Notker Wolf ist die Gunst der Stunde geschenkt. Sant’ Anselmo ist in doppelter Hinsicht ein Stein gewordenes Symbol für Aufbruch – für den Aufbruch in der Kirche nach dem Zweiten Vatikanum und für seinen persönlichen Aufbruch. Dreimal folgte er dem Ruf auf den Aventin. 1962 als Student, 1971 als Professor, 2000 als Abtprimas. Zwischendurch war er wieder in Bayern, wurde 1968 zum Priester geweiht und begann seine Doktorarbeit. Weil letztlich durch die Umwälzungen in der Kirche geeignetes Lehrpersonal in der Hochschule Sant’ Anselmo knapp wurde, ernannte man ihn auch ohne Doktorgrad bereits zum Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie. In seiner Abwesenheit hatten sich Welten verändert: An der Hochschule konnten sich nun auch Frauen einschreiben, jeder Student erhielt am ersten Tag einen Hausschlüssel und konnte täglich ausgehen, wenn er wollte … Professor Wolf galt als
Weitere Kostenlose Bücher