Meine Wut rettet mich
trägt die schwarze Alltagskutte der Benediktiner mit Kapuze und weißem Kragen, am Finger einen Ring als Zeichen der Treue zu Christus und auf der Brust eine Kette mit Kreuz als Symbol der Hoffnung, Erlösung und christlicher Liebe sowie Hinweis auf die Würde und Bürde seines Amtes: Notker Wolf ist Sprecher der 24.000 Benediktiner, die weltweit in 800 Klöstern leben, arbeiten und unterrichten. Als Abtprimas obliegt ihm auch der diplomatische Kontakt zum Heiligen Stuhl. Dieser liegt vom Aventin, einem der sieben Hügel der Ewigen Stadt und Sitz der Benediktiner-Konföderation, nur einen berühmten »Augenblick« entfernt: Wer gegenüber der Klosteranlage am Tor zum Anwesen der Ritter des Malteser-Ordens durch das Schlüsselloch schaut, hat genau den Petersdom im Blick.
Notker Wolf zählt auf: Hinter ihm liegt ein Vortrag beim internationalen Kongress der Benediktinerinnen, zuvor war er in der Schweiz, jetzt folgen München, London – im Schnitt wohl jeden zweiten Tag sitzt er in einem Flugzeug, oft nach Übersee, dazwischen gilt es, Reden vorzubereiten, Predigten, Manuskripte – und: hier im Hause Dinge zu regeln. Am Ende der Aufzählung ist er ganz da. Ruhig. Konzentriert auf das Gespräch. Für ihn sind solche Interviews eine Form des Missionsdienstes im Namen Jesu Christi. Dieser Mission hat er sein Arbeiten und Leben verschrieben: im stillen Gebet ebenso wie auf Podien, in Talkshows und in Gesprächen mit Ordensleuten, Politikern, Managern, Medienmenschen aus aller Welt.
Der Mönch erhebt den Dialog zum andauernden Anliegen einer lebendigen Kirche. Sie soll sich als Glaubensgemeinschaft vergewissern und sich über aktuelle Probleme des Einzelnen und der Gesellschaft austauschen.
Als Orientierung empfiehlt er natürlich das Leitmotiv, dem er sich selbst versprochen hat: »ora et labora« (bete und arbeite). Notker Wolf überträgt die rund 1500 Jahre alte Ordensregel des heiligen Benedikt auf Beispiele in der Gegenwart und zeigt, was man »von den Mönchen lernen« kann – auch eines seiner Bücher hat er so überschrieben. Die Ordensregel ist sozusagen der Routenplaner, sie gibt den Kurs vor. Aus ihr leitet er konkrete Empfehlungen ab, wie jeder sein Leben sinnstiftend führen kann: aufhören mit Egoismus, Gier und Größenwahn – ob in Gestalt von Atomkraftwerken oder dubiosen Machenschaften von Bankern; Eigenverantwortung übernehmen und sich um Himmels willen selbst als Hartz-IV-Empfänger nicht einfach zurücklehnen, sondern fleißig sein, verantwortungsbereit, diszipliniert, maßvoll; beweglich bleiben, um nicht etwa durch trotziges Festhalten an eigenen Lieblingsideen ein Unternehmen zu ruinieren; generell: genügsamer sein. Der Benediktiner verspricht kein bequemes Leben, aber ein freies: Wer sein Leben in Gott verankert, gewinne Selbstwert und Würde, er werde innerlich frei und damit auch befreit von äußeren, gesellschaftlichen Fesseln und Ängsten. Wer sich nicht mehr abhängig mache von Posten und Gehaltsstufen und vom Goodwill Dritter, werde frei: frei, seine Meinung zu äußern; befreit davon, seinen Lebenswert aus äußeren Zeichen zu schöpfen anstatt aus sich selbst, aus seinem Glauben heraus; und offen so zu handeln, dass es allen dient. Vor Verfehlungen schützt das dennoch keinen, sagt er, auch die Kirche nicht. Das bringt aber nicht vom Kurs ab: Die Kirche müsse zu den Schwachen ebenso wie zu den Schwächen stehen, mitten im Leben agieren und als Lebenselixier den Glauben anbieten. Das ist Notker Wolfs Mission.
Es ist seine Mission seit jenem Nachmittag, an dem er auf dem Dachboden in einer älteren Ausgabe der »Missionsblätter« die Lebensgeschichte des ermordeten Südseemissionars Pierre Chanel entdeckte, der Kranke und Sterbende pflegte und mit den Menschen betete. Drei Gedanken setzten sich fest in dem damals 14-Jährigen: Mit einer solchen Aufgabe würde sein Leben Sinn erhalten, er würde frei sein vom Streben nach materiellen Reichtümern, und er fühlte sich gebraucht – von Christus. Eine Woche lang las er die Geschichte immer wieder. Er vertraute sich der Mutter an, dann dem Vater, sie reagierten gefasst, der Pfarrer empfahl das Missionsseminar des Benediktiner-Klosters Sankt Ottilien, nach Ostern 1955 zog Werner Wolf um. Auch wenn ihm der Abschied von den Eltern und von seiner zwölf Jahre jüngeren Schwester schwerfiel.
Der Abtprimas wurde am 21. Juni 1940 in Grönenbach bei Memmingen, im erzkatholischen Bayern geboren. Sonntags half er als Messdiener, Gebete und
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