Meine Wut rettet mich
beliebter Lehrer, als tolerant und offen für ungewohnte Themen, schildert seine Biografin Vera Krause. Und er ging weiterhin eigene Wege, öffnete Freiräume. Er leitete die Schola der Abtei, blieb aber nicht in den gewohnten Räumen, sondern erschloss ihr Konzertbühnen und ging mit ihr ins Plattenstudio. Durch Stadtführungen verdiente er sich Geld für ein Auto und für Bücher. So war er noch mobiler und zudem entbunden, sich zu rechtfertigen, ob dieses Buch für seine Doktorarbeit wirklich sein müsse oder ob er nicht besser jenes verwenden wolle … Er wollte das alles selbst entscheiden; fast »nebenbei« schloss er seine Promotion ab.
Im September 1977 war Semesterpause. Er brach zum Urlaub nach Grönenbach und Sankt Ottilien auf. Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse: Papst Paul VI. ernannte Abtprimas Rembert Weakland zum Erzbischof von Milwaukee, der zeitgleich auf dem Aventin tagende Äbtekongress wählte zwei Tage später den Erzabt von Sankt Ottilien, Viktor Josef Dammertz, zum neuen Abtprimas. Dies setzte die Missionsbenediktiner unter Druck. In wenigen Wochen stand eine internationale Tagung an und bis dahin wollten sie unbedingt einen Nachfolger haben. Die Wahl wurde für den 10. Oktober angesetzt. Nach mehreren Wahlgängen war die Entscheidung gefallen: Der neue Abt hieß Notker Wolf. Obwohl er erst 37 Jahre alt war und nie im Missionsdienst. Obwohl manche offenbar neidisch waren, ihm nachsagten, die Wochen bis zur Wahl habe er sich in Sankt Ottilien wie ein ehrgeiziger Bewerber benommen. Er selbst sagt, er habe sich nie aufgedrängt für ein Amt, sich aber auch nicht vor der Verantwortung gescheut.
Die Wahl zum Abt erfüllte ihm auch den Wunsch, der ihn einst auf den Weg ins Kloster lockte: Er war nun Missionar! Als Präses der 1100 Missionsbenediktiner, die weltweit in 20 Klöstern lebten, sogar oberster Missionar der Benediktiner. Allerdings in einer Zeit, in der der Missionsgedanke in der Kritik war und viele Klöster Nachwuchssorgen hatten. Für jemanden wie Notker Wolf hingegen war dies eine günstige Zeit. Denn für ihn entstehen neue Wege auch dadurch, dass er sie geht. Er ebnet sie, indem er mit Leuten spricht und hinhört, wenn sie schildern, woran es hapert, aber auch, indem er in den eigenen Reihen auf mehr Öffnung drängte. Das war nicht jedem gleich willkommen. Doch gerade davon hing der Erfolg weiterer Mission zu einem guten Teil ab: Man musste offen sein und bereit, gezielt Bewerber aus dem Missionsland aufzunehmen, und sich dem ständigen Gespräch mit Vertretern anderer Religionen stellen. Manche seiner Mitbrüder mussten sich an einen solchen Kurs erst gewöhnen. Doch genau auf diese Weise gelang es, in Afrika, Lateinamerika, aber auch im verloren geglaubten China und Korea wieder Klöster als christliche Lebensorte zu verwurzeln. Krippenfiguren spiegeln den mittlerweile weltweiten Wandel, beschreibt Notker Wolf: Früher brachten europäische Missionare ihre Krippen nach Afrika, selbstverständlich bestückt mit hellhäutigen Figuren. Vor Kurzem habe er in der Auslage eines Geschäfts in Rom eine Krippe entdeckt, bei der die heilige Familie aus dunklem Ebenholz geschnitzt war.
Die Missionsklöster der Welt waren 23 Jahre lang Notker Wolfs Bühne. Mit der Wahl zum Abtprimas im Jahr 2000 wurden seine Bühnen nochmals größer und vielfältiger. Notker Wolf gefiel das Rampenlicht von jeher, für das Theaterspiel in Sankt Ottilien, für die Schola, für Vorträge. Er nutzt Bühnen für sich und für seine Anliegen. Ihm ergeht es ähnlich wie Lea Ackermann oder Paulus Terwitte. Das stört manchen Mitbruder. Die kritischen Stimmen sind ihm nicht gleichgültig. Er möchte die Mitbrüder nicht enttäuschen, aber er will sich selbst auch die Freiheit bewahren zu tun, wovon er überzeugt ist. Kritik nutzt er für Selbstzweifel und Selbstreflexion: »Will ich das oder lasse ich mich vor einen Karren spannen?« Von einem Verlag, einer Zeitung, von wem auch immer. Auch außerhalb des Ordens nimmt er zuweilen Kritik in Kauf, auch dort trifft er nicht nur auf helle Begeisterung, wenn er behauptet, der Plan, neben eine Kirche in München eine Moschee zu bauen, sei nur eine Machtdemonstration des Islams. Oder wenn er die »sexuelle Befreiung« relativiert: Sie mache in Wirklichkeit abhängiger von animalischen Trieben und fördere den Machismo des Mannes.
Der oberste Benediktiner ist zum wohl bekanntesten Benediktiner geworden und die Person Notker Wolf zu einer Marke, die weit über
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