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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlis Prinzing
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heißt, in Christus sterben und auferstehen zu einem neuen Leben«, geschah etwas bei mir. Die englische Sprachphilosophie – das habe ich später gelernt – nennt das ein »Disclosure«-Ereignis: Mir ging schlagartig auf, dass meine geografisch-biologische Festlegung – durch diesen Vater, diese Mutter, diese Geschichte, dieses Deutschland, diese Kirche – in der Taufe gestorben und zweit-, dritt-, fünftrangig geworden ist. In mir hat sich durch die Taufe das Original an die erste Stelle gesetzt, von dem her sich alles entwickelt hat: Jesus, die Logik der Welt, der Logos, der Schöpfer der Welt. Ab diesem Moment fühlte ich mich total emanzipiert. Ich wusste plötzlich, dass ich niemandem mehr gehorchen muss außer dem Evangelium, niemandem mich unterwerfen, keinem Papst, keinem Bischof, niemandem. Ich bin ein freier Mann in Christus. Mir war das Mannwerden und das Menschwerden nun ganz klar, nun wusste ich: Das ist die Freiheit! Würden alle Menschen begreifen, dass sie aus einer Quelle kommen, die ein so gütiges Antlitz namens Jesus hat, dann hätten wir den Frieden in der Welt. Für mich war klar: Das wollte ich gerne leben.
    Ich habe damals ein Gedicht geschrieben: »Vor mir auf dem Boden liegt ein Spiegel … werde ich den Spiegel jemals an die Wand hängen können«, werde ich genügen?
    Das alles ausgelöst durch den Satz eines Priesters?
    Das war Gnade. Gott wollte das so.
    Erlebten Sie je wieder Vergleichbares?
    Ja, ein paar Jahre später. Ich war 22, Kapuziner geworden, hatte gerade ein Freisemester in Graz und ging eines Nachmittags über die Straße, auf dem Weg nach Hause, und war wieder einmal beschäftigt mit der Frage: Wie kann ich ein noch besserer Kapuziner werden und noch mehr den Reichtum dieses Bruderseins erfassen? Dabei hatte ich immer die Bilder vor Augen, die auch hier im Flur hängen ( er zieht seine Kapuze tief ins Gesicht, senkt den Blick nach unten ): barocke Ansichten eines Kapuziners, der in seiner Zelle sitzt, die eine Hand auf einem Totenschädel, die andere am Kreuz. So wollte ich werden! Plötzlich, mitten auf der Straße, blieb ich stehen, mir wurde klar – nun, ich will jetzt nicht sagen, eine Stimme schallte vom Himmel; das wäre echt ein bisschen zu viel – jedenfalls, mir wurde ganz plötzlich klar: Ich muss doch gar nicht Kapuziner werden, ich bin schon einer! Und Gott will mit mir sein Werk tun. Was will ich denn mehr?
    Nachvollziehbar, dass ein 17-Jähriger findet, er habe das Leben verstanden. War es aber im Rückblick damals nicht anmaßend zu behaupten, schon alles zu verstehen?
    Nein. Denn ich habe mich an diesem Wochenende entschieden, bewusst Christ zu sein, ein Leben lang, weil in Jesus Christus – das ging mir auf – der Schlüssel zur ganzen Welt liegt.
    Das war Ihnen vorher nicht klar, obwohl Sie doch getauft waren, Ministrant, Gruppenleiter auf kirchlichen Jugendfreizeiten …
    Jaja, alles habe ich gemacht, ich war hundertneunzigprozentig in der Kirche dabei, habe gemacht und gemacht. Aber ich fühlte mich nur wie eine Nummer. Nicht wie ein Christ. Ein Christ ist einer, der begriffen hat, dass Gott ständig im Aufbruch ist zu uns. Einer, der eine Gottes-Erfahrung gemacht hat. Und die hatte ich nun auch. Nun brannte ich. Bis dahin brannte ich nicht. Ich glaube, Gott hat die Kirche geschaffen als ein Gerüst in der Welt, in das er Menschen hineinstellt, von denen er einige brennend machen möchte. Und mich wollte er brennend für seine Sache machen. Es muss nicht jeder brennend werden. Aber ich sollte es. Weil Gott das wollte.
    Brennend werden – Sie benutzen immer das Passiv.
    Ja, denn das habe nicht ich gewollt, der Herr Jesus hat das gewollt. Ich wollte nun wirklich kein Gläubiger sein. Wie auch? Ich habe ja bis dahin gar nicht begriffen, was das ist. Ich wusste überhaupt nicht, was ich werden sollte.
    Suchten Sie Orientierung und Halt?
    Nein. Alles wurde an mich herangetragen. Das war immer so. Ich bin in den Orden eingetreten, ohne zu wissen, was er mit mir macht. Auch die Auftritte im Fernsehen fielen mir zu. Ich habe das alles nicht gesucht. Ich lebe nicht für ein Ziel, welches ich dann unbedingt erreichen muss. Ich lebe im Heute.
    Bis zu jener Gotteserfahrung bei dem Glaubensseminar lebten Sie kirchengefällig, aber noch ohne sich selbst erkannt zu haben. Wie sehen Sie Ihr Heranreifen im Nachhinein?
    Mir wurde nach und nach klar, warum ich bestimmte Dinge gemacht habe, die mich damals schon von meinen Freunden unterschieden: Samstags habe ich

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