Meine Wut rettet mich
verbringen. Ins Kino gehen. Tue ich aber nicht. Da bin ich zu faul. Und ich bin zu wenig entschieden. Ich müsste klarer sein im Handeln. Ich warte zu lange ab. Ich sehe manche Dinge zwar, zögere aber, wenn ich vermute, die anderen sind noch nicht so weit. Das sind oft kleine Dinge. Zum Beispiel, wie oft wir in der Woche Fleisch essen. Ich bin dafür, dass wir beim teuersten Metzger kaufen, der schonend geschlachtet hat und mit seinem Vieh ordentlich umgeht, und dafür seltener. Das muss ich aber durchsetzen, dafür werben, Maulerei in Kauf nehmen.
Als Guardian könnten Sie das verordnen.
Will ich aber nicht, ich will um Einsicht werben. Ich komme mit keiner Heilslehre, ich war nie ein Ideologe. Ich esse eigentlich kein Fastfood – und trotzdem kommt das auch mal vor. Dieses Un-Ideologische, Großzügige hat übrigens nichts mit Frömmigkeit zu tun, das ist ein elterliches Erbe.
Ihr Vater hätte Ihnen gerne noch ein anderes Erbe vermacht, seinen Betrieb.
O ja. Es war eine Riesenenttäuschung für ihn, als ich mit 16, nach der Realschule, keine Lehre begann, sondern ins Gymnasium ging.
Und als Sie ihm vortrugen, Priester zu werden?
Er war stolz. Allerdings weiß ich letztlich nicht, ob es mir galt oder eher dem Ansehen, das man als Vater genießt, wenn man einen Priestersohn hat. Ich habe mich später lange damit auseinandergesetzt, ob ich in Wirklichkeit Priester geworden bin, damit er als katholischer Vater zumindest mit mir zufrieden ist. 90 Stunden Einzelanalyse haben mir da nicht wirklich weitergeholfen.
Gibt es immer noch Zweifel, ob Ihre Berufung vielleicht nur eine Folge Ihrer Lebensgeschichte ist?
Ich habe mir alles so genau wie möglich angesehen: War diese Entscheidung vielleicht auch eine Flucht vor der Mutter, hinter die Klostermauer in den Schoß einer neuen Mutter hinein? Ich unternahm noch andere freudianischen Klimmzüge. Am Ende blieb mir nur der schöne lateinische Satz: »Gratia supponit naturam« – Die Gnade setzt die Natur voraus. Dann ist halt alles so gewesen. Ich bin ja glücklich. Was will ich mehr? Mittlerweile halte ich mich für emanzipiert genug.
Warum hatten Sie dann ein solch starkes Bedürfnis, sich erkunden zu müssen?
Wir hatten zu Hause einen Pfarrer, bei dem ich das Gefühl hatte, wir sind Opfer seiner Macken. Und ich wollte nicht, dass die Leute Opfer meiner Macken werden. Wenn ich schon welche hatte, dann wollte ich sie kennen, wollte wissen, wie ich funktioniere, um mich besser einschätzen zu können. Ich bilde mir ein, ich weiß jetzt, wie ich ticke. Das hilft mir, achtsamer mit mir und damit auch mit anderen umzugehen.
Die Einzelanalyse auf der Suche nach den Wurzeln für das eigene Priestertum war nicht alles. Sie haben sich jahrelang ausbilden lassen – in Gestaltberatung und Gestalttherapie, befassten sich mit Narzissmus, Kindheitsforschung. Warum?
Ich wollte glücklicher werden. Fritz Perls Vorstellung von der »self awareness« erfasst das gut, man kann aber auch ein theologisches Wort verwenden: Realpräsenz. Jesus war ein realpräsenter Mensch. Ich wollte eine präsente Persönlichkeit werden, Mensch sein. Vor allem aber: Ich musste mir ein Grundvertrauen in mich erkämpfen. Mit 15 war ich 1,91 Meter groß, musste mich rasieren und wog 95 Kilo. Schon damals sah man in mir den »Tagesschau«-Sprecher, der immer groß daherredete. Kaum einer wollte mein Freund sein. Wer will schon mit einem so erwachsenen Typen zusammen sein? Ich war zu schnell zu groß, sah zu schnell erwachsen aus. Als 15-Jähriger saß ich mit 17-Jährigen im Liturgie-Kreis, rauchte, weil die rauchten, und sagte Sätze, die gar nicht meine waren, sondern einfach den anderen nachgeredet. Ich habe zwei Jahre lang gebraucht, um zu lernen, mich irgendwie zu lieben. Einen ersten wahren Freund fand ich erst mit 27 Jahren.
Wie definieren Sie Freund?
Das ist für mich der Seelenverwandte, der Vertraute der eigenen Seele. Trifft man sich, dann ist es, als sei seit dem letzten Treffen keine Zeit vergangen.
Worin unterscheidet sich ein Beichtvater von einem Freund?
Ein Beichtvater ist für mich nur ein Katalysator Richtung Gott und Christus. Ich feiere mit ihm den Glauben, dass Christus mich persönlich annimmt und dass er mir verzeiht. Ein Beichtvater ist für mich als Mensch uninteressant. Ein Freund ist ein Mensch, mit dem ich unangestrengt zusammen sein kann und bei dem ich keine Rolle übernehmen muss. Wenn einer, den ich Freund nenne, mit mir zusammen ist, kann er auch mal vergessen,
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