Meine Wut rettet mich
erläuterte, dass ihn viel mehr interessiere, was so viele Menschen dorthin trieb, reagierten etliche verblüfft. Sie konnten sich nicht wirklich vorstellen, dass hier einer schlicht neugierig war, wie Journalisten es sowieso sein sollten, und unterstellten ihm, er sei evangelikal.
Brummer spezialisierte sich auf das Verhältnis zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft, auf kulturwissenschaftliche und auf religionssoziologische Themen. Gemeinsam mit seiner Frau schrieb er ein Buch über die Reform des Gesundheitswesens ( Reform oder Ruin? Norbert Blüms Rezept gegen den Kollaps der Krankenversicherung) . Er gab Bücher heraus zur Reform von Kirche und Diakonie sowie eines zur Wende ( Vom Gebet zur Demo. 1989 – Die friedliche Revolution begann in den Kirchen) . Und ihm wurden noch zwei weitere Chefposten übertragen: Zum einen übernahm er die Geschäftsleitung des Hansischen Druck- und Verlagshauses, einer Tochter des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik und der Evangelischen Verlagsanstalt. Zum anderen wurde er Spitzenmann der FDP, und dies in einer Zeit, als der Liberalismus tief in einer Krise steckte, weil die Funktionäre wenig interessierte, was die Basis bewegte. Brummer wurde 1995 Vizevorsitzender der Hamburger FDP und 1997, nachdem die Freidemokraten bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen an der Fünfprozenthürde gescheitert waren, Landesvorsitzender. »Andere gehen zur Domina, ich geh zur FDP«, witzelte er damals ( Focus , 12.6.1995). Heute bezeichnet er diese Zeit als Fehler, der entstanden sei, weil ihm die Positionen prominenter Liberaler gefielen, wie beispielsweise jene des Soziologen Ralf Dahrendorf, den er zu Hause in Konstanz persönlich kennengelernt hatte. Und er glaubte, ähnlich wie lange Zeit in der Gemeindearbeit innerhalb der katholischen Kirche, die FDP lasse sich am besten von innen heraus verändern. Im Jahr 1999 gab er das Parteiamt ab. Denn er brauchte nun all seine Energie für das Sonntagsblatt.
Weil sich die Zeitung nicht mehr rechnete, beschloss nämlich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), also quasi die evangelische Regierung, sie ersatzlos einzustellen und 50 Leute auf die Straße zu setzen. Im Oktober 1999 sollten die Lichter ausgehen. Brummer blies zum Kampf. Sein Team reichte ein Konzept ein für ein Verteilmagazin, chrismon, und erhielt in der Synode dafür die Mehrheit. Bis Oktober 2000 sollte noch das Sonntagsblatt erscheinen und dann nahtlos in dieses neue Magazin übergehen. Brummer wertet dieses Ergebnis als Beleg für die Stärke des Evangelischen. Da sei es möglich, sogar eine EKD-Entscheidung durch eine Synodenentscheidung zu verändern. Persönlich hingegen taumelte er durch diesen Kampf in eine Stressdepression. Als ein Unternehmensberater ihm die neue Perspektive fast aus der Hand gerissen hätte durch die Unterstellung, seine Redaktion sei »verbrannt« und könne kein neues Projekt stemmen, ging er auf die Barrikaden, gewann und stürzte hinterher noch tiefer: Er fand keine Ruhe mehr, keinen Schlaf. chrismon war auf dem Gleis, nur wenige Stellen wurden gestrichen. Doch er selbst benötigte Psychopharmaka, eine Therapie, viel Geduld und die Toleranz seiner Frau, um wieder Licht zu sehen, sich aufzurichten und zu sich zu finden.
Wenn Brummer chrismon erklärt, klingt es, als erkläre er seinen Glauben: chrismon sei ein Magazin, das ohne den mahnenden Zeigefinger auskommen will. Moral, Ethik und Philosophie haben einen hohen Stellenwert. Im Zentrum stehe der Glauben und nicht die spezifische Religion. Chefredakteur Brummer stellt sich in die Tradition der Theologen Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth. Christentum erschöpft sich für sie nicht im sonntäglichen Kirchgang. Es ist eine Haltung für jeden Tag. Geschichten in chrismon sollen Facetten der christlichen Haltung vermitteln, also Nächstenliebe, Toleranz, Gerechtigkeit, Ehrfurcht. Das Magazin wolle alle ansprechen, nicht nur Evangelische. Man lasse bewusst Zweifler zu Wort kommen und stelle sich der Kritik. Auch am Chef. Brummer erntete für sein im September 2011 erschienenes Buch »Unter Ketzern« nur bei einem Teil der Leserschaft Lob, viele reagierten hingegen empört.
Der Zeitpunkt des Erscheinens kurz vor dem Papstbesuch sei ein Marketing-Coup, Brummer schade der Ökumene, sei unanständig, wolle wohl ein nächster Luther werden, seine Darstellung idealisiere, er bediene uralte Klischees – »hier die wackeren Protestanten, die einträchtig, fröhlich rudernd durch
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