Meine Wut rettet mich
widersprechen. Denunziation, da beziehe ich mich jetzt auf den katholischen Theologen Norbert Lüdecke 66 , bedeutet allerdings in der katholischen Kirche nicht Falschaussage, sondern nur das Melden von Irrlehren.
Also petzen …
Ja, genau. Das Petzen ist ausdrücklich gewünscht. Und das wird wohl so bleiben. Doch da können Protestanten nicht mitmachen, das ist nicht unsere Vorstellung, wie wir miteinander umgehen wollen.
„… dem Volk aufs Maul schauen … ”
Was bedeutet heute für Sie, als Journalist evangelisch zu sein?
Ich schöpfe viel aus Luthers »Sendbrief vom Dolmetschen« aus dem Jahr 1530. Er lässt sich auch übertragen auf den journalistischen Übersetzungsauftrag. Der Journalist Egon Erwin Kisch 67 stellte diesen Sendbrief an den Anfang seiner Anthologie des klassischen Journalismus – und dies, obwohl er keineswegs als eifriger Protestant galt. Luther schrieb diesen Brief an fiktive Adressaten. Er wurde x-tausendmal gedruckt. Luther rechtfertigt darin, weshalb er die Bibel ins Deutsche übersetzt hat und wie er dabei vorgegangen ist. Man müsse »dem Volk aufs Maul schauen«, das heißt, man müsse ihre Sprache kennen, um ihnen die Bibel überhaupt erschließen zu können. Es galt Begriffe zu finden, die ihnen geläufig waren – in ihrem Vokabular, in ihrem Denken und in ihrer Wirklichkeit – und durch die sich zugleich der Sinn dessen, was in der Bibel steht, nicht veränderte. Manchmal habe er drei Wochen nach einem Wort gesucht oder nach einem Begriff, der seinem doppelten Anspruch gerecht wurde: biblisch korrekt, verständlich fürs Volk. Wir haben heute eine ähnliche Aufgabe. Wir müssen Leute, die zwischen Twitter und Facebook dennoch recht vereinsamt leben, aber eine große Sehnsucht nach Gemeinschaft und Transzendenz in sich tragen, in ihrer Lebenswirklichkeit erreichen mit dem, was in diesem dicken Buch Bibel steht. Wir müssen mit ihnen an einem Tisch sitzen, auf Augenhöhe mit ihnen reden, ihnen erzählen, ihnen zuhören, ihre Sorgen sehen und sie spüren lassen, dass sie nicht alleine sind. Wir sind an ihrer Seite und Jesus, unser aller großes Vorbild, auch. Die Intellektuellen fanden Luthers Idee übrigens nicht lustig. Sie wollten Religionsangelegenheiten zunächst unter sich bereden und sie dann gefiltert und dosiert weitergeben; solche Themen könne man nicht mit den einfachen Leuten öffentlich diskutieren. Welcher Irrtum!
Und was bedeutet evangelisch zu sein für Sie persönlich?
Mich hat tief berührt, wie Politik und Öffentlichkeit in Norwegen auf Anders Breiviks Massaker am 22. Juli 2011 in Oslo und auf Utøya reagierten. Ministerpräsident Jens Stoltenberg erklärte, man vergelte Hass mit Liebe. Das ist Christentum live. Und die Art, wie diese Botschaft vermittelt wurde – offen und nicht von oben herab –, ist ein Beispiel für Evangelizität. Die Apostelgeschichte ist voll von Streitereien über den richtigen Weg. Das ist in Ordnung so. Es gibt Leute, die dem Streit aus dem Weg gehen wollen und lieber alles Augenmerk darauf richten möchten, die Agnostiker und die Atheisten vom Glauben zu überzeugen. Streit schade dem Ansehen der Kirche. Ich glaube das nicht. Wenn ein großes Fußballmatch – Bayern gegen Dortmund, zum Beispiel – in den Medien unterschiedlich kommentiert wird, wenn Klopp und Hoeness ein wenig spotten und die Fans in den Kneipen sich Wortgefechte liefern – schadet das der Faszination des Fußballs? Nein. So ist es auch beim Streit über das, was Christsein heute bedeutet. Wenn wir fröhlich miteinander streiten, ob gleichgeschlechtliche Paare sich offen dazu bekennen sollen und heiraten dürfen, dann ist das ein guter Streit. Ein Streit darüber, wie die Heilige Schrift anzuwenden ist, ist immer gut. Jedenfalls entspricht das der Grundhaltung des Evangelischen. Es gilt Luthers Motto: »Die Geister lasset aufeinanderprallen, die Fäuste haltet stille!«
Worin liegt, Ihrer Auffassung nach, der Hauptunterschied zwischen der evangelischen Haltung zur Kirche und der katholischen?
Nach evangelischer Überzeugung ist die Kirche Menschenwerk. Sie muss sich immer wieder verändern, um zu den Menschen ihrer Zeit zu passen. Der katholischen Haltung entspricht hingegen: Das behauptete Leben ist anders als das tatsächliche. Die Kirche muss ihre Lehre und Tradition sauber und rein halten und sie nicht durch Modernismen ständig infrage stellen.
Wann hat die evangelische Kirche Sie persönlich enttäuscht?
Gar nicht. Sie geht sehr offen mit ihren
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