Meine Wut rettet mich
Vorsätze? Sind Sie als Vater kein solcher Kulturpessimist?
Ich habe ihn ertappt, wie er auf Facebook war, statt Schularbeiten zu machen. Dachte ich. Er hatte recht. Er war auf Facebook, um Schularbeiten zu machen, und tauschte sich in seiner Arbeitsgruppe über die bisherigen Ergebnisse aus. Ich habe meinen Fehler widerwillig zugegeben. Und mich wieder an Bob Dylan erinnert.
Wie politisch muss die Kirche sein?
Kirche muss sich überall einmischen – in die Politik, aber auch in die Wirtschaft, in soziale Fragen, in den Sport, in die Kultur, in die Biologie. Sie gehört mitten ins Leben und in jeden Lebensraum, mitten in den Alltag. Sie lebt von der Gemeinschaft, dem menschlichen Miteinander in der echten, nicht nur in der virtuellen Welt.
Wie sieht Ihr evangelischer Alltag aus? Beginnen Sie den Tag mit einem Gebet?
Ich bin spirituell unmusikalisch. Ich kann mich in einem Gottesdienst freuen, wenn wir ein schönes Lied singen, bin aber keiner, der für sich alleine formulierte Gebete spricht. Eigentlich mache ich das nur in der Gemeinschaft. Dann spreche ich das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis mit, und zwar, weil wir uns als Gemeinschaft in diesen Gebeten vergewissern, dass wir aus derselben Quelle schöpfen. Für mich alleine kann ich sagen: »Es ist heute ein schwieriger Tag, eine kluge Frau aus Köln will ein Gespräch mit mir führen. Ich hoffe, dass ich klug genug bin, ihren Ansprüchen zu genügen.« Es kann sein, dass ich mir solche Dinge morgens sage. Ich bin keiner, der lange Gebete spricht; Stoßgebete in schwierigen Augenblicken hingegen schon: »Herr, hilf!«
Luther beschreibt den »Gottesdienst des Schusters in der Welt«. Ein Schuster, der seine Kunden fair behandelt und gute Schuhe macht, verrichtet so seinen Gottesdienst. Wer sein Tagwerk ordentlich macht und mit Menschen anständig umgeht, ist Gott zur Genüge zu Diensten. Wie sehen Sie das?
Diese Vorstellung tut mir sehr gut. Dieser Art Gottesdienst in der Welt verdanken wir den Begriff des Berufs. Es gibt Leute, die dazu berufen sind, die Schrift auszulegen und Theologie zu studieren, und andere Leute sind berufen, Schuhe zu machen. Beide sind genauso viel wert, beide sind auf ihre Art Priester und verrichten ihren Gottesdienst auf ihre Weise. Seine Mitmenschen ordentlich zu behandeln heißt für mich aber auch, kritisch zu sein und zu streiten. Wir streiten in unseren Redaktionskonferenzen immer, und ich will diesen Streit. Aber es ist auch klar: Wir alle schätzen und mögen einander.
Es verwundert wenig, dass Sie als bekennender Fußballfan gerne einen Spruch von Alfred »Adi« Preißler zitieren, dem legendären Trainer der Borussia Dortmund, auch wenn Ihr Fußballherz ja für den FC Bayern schlägt. Denn Preißler fand, entscheidend sei, was auf dem Platz passiert. Wie übertragen Sie das auf die Kirche?
Entscheidend ist, was in den Gemeinden passiert. Für mich zählt, wie sich das Christentum im Alltag bewährt. Evangelisch sein heißt, im Alltag anständig bleiben. Die Gebete und Vergewisserungen im Gottesdienst sind eine Art Tankstelle, wo man sich nochmals auftankt in der Gemeinschaft. Wissend, wir sind nicht allein.
„ Evangelisch sein heißt, im Alltag anständig bleiben. ”
»Christentum erfüllt sich nicht in spirituellen Kunststücken, in ekstatischer Verzückung und weihrauchumwaberten Ritualen oder wallfahrerischen Rekordanstrengungen«, haben Sie in einer chrismon -Kolumne 72 geschrieben. Was stört Sie daran?
Nichts. Wenn es nicht vom Kern ablenkt. Gemeinschaft und Miteinander sind wichtig. Im Kern bleibt Christentum Beziehungsarbeit. Wer diese leistet und mit seinen Mitmenschen ordentlich umspringt, muss nicht auch noch nach Spanien auf den Jakobsweg rennen. Aber es steht ihm frei, wenn er es möchte.
Waren Sie immer der eher nüchterne Typ?
Ich gebe zu, dass ich auch schon mit Räucherstäbchen herumgefuchtelt und Kerzen angemacht habe und dazu Leonard Cohens Song »Suzanne« aufgelegt habe. Aber nur, weil das den Mädels gefiel.
PORTRÄT
Wortgewaltiger Pfarrer, furchtloser Bürgerrechtler, sprachmächtiger Oppositioneller
»Das regt mich auf«, sagt Friedrich Schorlemmer und schlägt im Takt der Silben auf den Tisch. Der evangelische Pfarrer und Bürgeraktivist ist oft ein wütender Mensch. Und ihm wäre sehr recht, wenn die Menschen um ihn herum auch wütend wären. So wütend, dass sie aktiv beitragen, die Welt zu verbessern. Jeder an seinem Platz. Mehr Wut für den Frieden, die Umwelt, die soziale
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