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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlis Prinzing
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früher war dies Helmut Schmidt 71 . Das Wichtigste an Politik ist ihre Korrekturfähigkeit – und zwar im Sinne des Kritischen Rationalismus und der Rechtfertigungslehre. Denn es könnte sich morgen herausstellen, dass alles, was man bisher getan und für richtig befunden hat, aus bestimmten Gründen falsch war.
    Sie bestreiten, dass Ihre politische Haltung und Ihre Glaubensvorstellung zusammenhängen, nun haben Sie aber in Ihrer Antwort beides verbunden: Karl Poppers »Kritischen Rationalismus« und die Rechtfertigungslehre, die zu den Grundfesten des Protestantismus gehört.
    Vielleicht verbindet sich das tatsächlich.
    Welche Einsichten verschaffen Ihnen diese beiden Zugriffe?
    Ich bin ein Freund des Kritischen Rationalismus, weil ich die Vorläufigkeit des menschlichen Handelns sehe. Menschliche Erkenntnis steht unter einem Vorbehalt. Sie gilt nur, solange sie sich nicht als falsch erwiesen hat. Das ist aufgeklärter Pragmatismus. Auch wenn etwas bewährt ist, könnten wir schon morgen irgendetwas erkennen, das unser Denken von heute zu Geschwätz werden lässt. Die Rechtfertigungslehre wiederum betrachte ich als Grundlage der Weltexistenz. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir immer auf Gnade angewiesen sind, weil auch das, was wir in bester Absicht machen, sündig sein kann.
    Wie lässt sich dies an einem konkreten Beispiel auf Ihre politische Haltung übertragen?
    Aus dieser Warte heraus kann ich keine »Welterlösungspolitik« wollen, sondern nur eine Politik, die bestrebt ist, dass sie korrigierbar und revidierbar bleibt. Es kann ja schließlich das, was ich gestern in bester Absicht getan habe, morgen falsch sein. Ein aufgeklärter Pragmatismus in einer parlamentarischen Demokratie ist für mich wichtiger als eine Vision. Da bin ich mit Helmut Schmidt einig, der fand, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Wer Politik macht, sollte für möglichst alle Menschen gute Lebensbedingungen anstreben und sie in die Lage versetzen, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen. Das Recht auf »pursuit of happiness«, auf das Streben nach Glück, aus der amerikanischen »Bill of Rights« stellt jedem frei zu entscheiden, wie er glücklich werden will. Und damit bin ich bei Karl-Hermann Flach. Der sagte, Aufgabe sei es, Menschen materiell in die Lage zu versetzen, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen. Er fand, es sei wohlfeil, wenn jeder das Recht habe, ein Musikinstrument zu lernen, obwohl das so teuer sei, dass sich dies nur eine wohlhabende Minderheit einfach leisten könne. Daraus entstand die Idee, städtische Musikschulen mit bezahlbaren Stunden zu gründen. Politik hat nicht die Aufgabe, das Glück zu schaffen, sondern sie muss Wege ebnen, damit möglichst viele sich frei entscheiden können für das, worin sie ihr Glück sehen.
    Und wie übertragen Sie diese Überzeugung auf Ihre Glaubenshaltung? Welches Beispiel fällt Ihnen dazu ein?
    Vor Kurzem schrieb mir ein Theologe, er habe in den Neunzigerjahren einen Leserbrief an die Kölner Bistumszeitung geschickt, in dem er darlegte, es gebe in der Bibel keinen Beleg dafür, dass man Frauen nicht zu Priestern weihen kann. Joseph Ratzinger habe sich damals direkt eingeschaltet und den Erzbischof von Köln aufgefordert, ihm klarzumachen, dass das nicht gehe. Diese Frage sei endgültig entschieden. Endgültig entschieden! Endgültig sei entschieden, dass man Frauen nicht weihen kann. Man kann sagen, zurzeit sehe man das so, aber doch nicht auf alle Ewigkeit. Mit Popper gesprochen: Menschliche Erkenntnis gilt nur so lange, wie sie sich nicht als falsch erwiesen hat. Die Kirche kann nichts endgültig entscheiden. Kein Mensch kann das.
    „ Die Zeiten ändern sich, lasst die Jungen etwas Eigenes denken und nervt sie nicht mit eurem Kulturpessimismus. ”
    Wie begann Ihre politische Sozialisation?
    Mit Che Guevara und Fidel Castro. Sie waren für mich die Nachfahren von Winnetou und Old Shatterhand. Mit der Zeit habe ich bemerkt, dass diese Vorstellung ziemlich romantisch war. Irgendwann bin ich Bob Dylan begegnet. Sein wichtigster Song für mich ist bis heute »The Times They Are a-changin’«. Kernsatz ist für mich: »Come mothers and fathers throughout the land. And don’t criticize what you can’t understand.« Die Zeiten ändern sich, lasst die Jungen etwas Eigenes denken und nervt sie nicht mit eurem Kulturpessimismus.
    Ja, die Zeiten ändern sich. – Heute haben Sie einen Sohn im vergleichbaren Alter. Er ist Jahrgang 1995. Halten Sie sich an Ihre

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