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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlis Prinzing
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Friedensbewegung zumindest einen Schub, gerade in einem Staat, der sich »Friedensstaat« nannte, aber schon mit Kindergartenkindern militaristisch umging und ihren Alltag mit Befehlen strukturierte.
    In einem Land, in dem die Militarisierung des Denkens schon so weit vorangeschritten war, musste die Kirche einfach aufstehen.
    Obwohl – wohl auch als Folge von Brüsewitz’ Aktion – der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker im März 1978 gerade mit der evangelischen Kirche, angeführt von Bischof Albrecht Schonherr, eine Art Burgfrieden aushandelte …
    … und im selben Jahr den obligatorischen Wehrkundeunterricht einführte. Viele wollten das nicht, fürchteten sich aber noch aufzubegehren. Doch die Wut wuchs und wuchs. Es zeigte sich: Auch kleine Gruppen können was erreichen. Irgendwann war ich bereit, aufs Ganze zu gehen, 1989, als immer mehr junge Leute in den Westen verschwanden. Und als meine Tochter sagte: »Papi, ich möchte nicht noch zwanzig Jahre warten wie du …«
    „ Die Menschen gingen auf die Straße, obwohl sie nicht wussten, ob sie wieder nach Hause kommen. Ist das nicht Wahnsinn! ”
    Sie sind also aufs Ganze gegangen …
    … und so haben wir das Wunder des Herbstes 1989 erlebt. Die Menschen gingen auf die Straße, obwohl sie nicht wussten, ob sie wieder nach Hause kommen. Ist das nicht Wahnsinn! Ist das nicht wunderbar, wenn plötzlich 70 000 Leute auf die Straße gehen. Jeder Einzelne ging praktisch auf eigene Kappe und sagte für sich ganz allein: »So nicht mehr.« Keiner wusste, dass es 70 000 werden; es hätten auch nur 700 sein können oder 7000. Die hätten sie alle ganz schnell wegräumen können. Es war alles minutiös geplant, von der Zahl der Unterhosen, die ich hätte mitnehmen dürfen ins Lager, bis zur Anzahl Schuss, die sie bei sich gehabt hätten, um mich abzuholen. Doch wir waren bereit, aufs Ganze zu gehen. Und erlebten das Wunder, dass wir eben doch nicht in die Lager gebracht werden konnten, die schon für 84 000 von uns vorbereitet waren.
    Wussten Sie damals schon von diesen Vorbereitungen?
    Wir ahnten, dass es diese Lager gab, wir wussten es aber nicht. Man muss sich gerade in einem totalitären System davor bewahren, laufend das Allerschlimmste zu befürchten, weil man dann gar nicht mehr leben kann. Es wäre fatal gewesen, auf jedes schlimme Gerücht zu hören. Wir wussten, dass wir in solche Lager hätten kommen können, aber nicht, dass sie schon fertig waren. Wir waren dennoch bereit. Bereit, anders zu reagieren als jene, die nun immer zahlreicher die DDR verließen.
    Zu was waren Sie bereit?
    Der eigentliche Satz der Revolution ist: »Wir bleiben hier.« Das war eine klare Botschaft an die Regierenden: Denkt ja nicht, wir lassen uns einfach nach Westen schieben, und dann ist das Problem weg. Wir wollen, dass sich hier etwas ändert. Hier muss und hier wird sich etwas ändern.
    „ Der eigentliche Satz der Revolution ist: Wir bleiben hier. ”
    Aber zunächst galt es, Ausschreitungen vorzubeugen. Wie schafften Sie das?
    Wohl durch das Wort. Der Satz »Wir sind das Volk« vom 9. Oktober 1989 war zunächst ja nicht gesamtdeutsch gemeint, sondern ein Appell nach innen: keine Gewalt! Wir forderten die Demonstranten auf: »Provoziert nicht die Polizisten.« Und wir baten die Polizisten, keine Gewalt anzuwenden. Denn Gewalt hinterlässt für lange Zeit Wunden, die schmerzen; Spuren. »Wir sind das Volk« richtete sich an die Polizisten und an uns alle. Wir, das Volk, wollen unser gemeinsames Land gestalten. Hinzu kam, dass wir miteinander historische Wunder erlebten. Michael Gorbatschow wurde nicht aus dem Amt als Generalsekretär der Kommunisten gedrängt. Und die Regierenden der DDR erteilten keinen Schießbefehl, obwohl wir täglich damit rechneten. Denn wir wussten, dass sie die chinesische Variante, mit Protest umzugehen, befürworteten. Die chinesische Regierung hatte ja im Juni 1989 die Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens ja blutig niedergeschlagen. Die Frage nach der deutschen Vereinigung kam erst Mitte November, erst dann veränderte sich der Satz in »Wir sind ein Volk«.
    Auf das Wunder folgte die Ernüchterung: Sie wollten eine eigenständige, reformierte DDR. Zumindest mal zunächst.
    Ich muss klarstellen: Keiner aus unseren Reihen war gegen die Wiedervereinigung. Alle waren dafür. Aber als Vereinigung, nicht als Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, wie es dann geschah. Und wir wollten eine Einbettung der deutschen Einheit in die

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