Meine Wut rettet mich
Tische und unmittelbare Demokratie parallel zur parlamentarischen Demokratie. Eine Spontandemokratie, erzeugt durch Gruppen, die sich zu bestimmten Themen zusammen an einen Tisch setzen, genügt nicht. Eine Demokratie, die nur alle vier Jahre zu einem Versuch wird, sich selbst ins beste Licht zu rücken, genügt auch nicht. Wir brauchen beides, wir brauchen auch Parlamente, wo kontinuierlich gearbeitet wird und Rechtsverbindlichkeiten hergestellt werden. Immerhin hat die Wahl 2011 in Baden-Württemberg gezeigt, dass Bürger trotz medialer Verblödung wach sein können und einem Politiker wie Stephan Mappus keine Mehrheit mehr geben. Dieses Ergebnis spricht für die politische Wachheit im Lande. 83 Die Bürger sind eben nicht alle desinteressiert und wissen nichts, sie haben offenbar durchaus ein Gefühl für das, was Mache und was Überzeugung ist.
Steckt hierin nicht wieder ein Widerspruch? Sie haben beklagt, dass viel zu wenig Menschen sich engagieren. Über aktuelle Probleme, selbst über die mehrfache Katastrophe von Fukushima mit Seebeben und kaputten Atomreaktoren, werde auch von Protestanten oft einfach süße Soße gekippt.
Das Problem ist mehrschichtig. Erstens: Ich finde, Menschen, die sich früher gegen Missstände engagiert haben, dürfen sich nicht ewig nur auf diese Missstände von gestern fokussieren. Zweitens: Wir leben heute in einem so fragilen Wirtschaftssystem, dass die ganze Welt in den Orkus kippen könnte. Das wird aber kaum wahrgenommen. Manche schauen weg, weil sie sich ohnmächtig fühlen. Sie denken: »Ist doch alles sinnlos, auf mich kommt’s nicht an.« Drittens: Sobald es Menschen gibt, die mobilisieren, wie in Stuttgart, geht es manchmal doch.
Beim evangelischen Kirchentag, zu dem am ersten Juniwochenende 2011 rund 120 000 Menschen nach Dresden kamen, wurden, stärker als in den Jahren zuvor, große Gesellschaftsthemen angesprochen. Es war fast wie in den Achtzigerjahren, als es dort um Frieden, Umwelt und Atomausstieg ging. Afghanistan war ein großes Thema, Kernenergie und unter dem Begriff »Freiheit« wurde über die Revolutionen und Transformationen in Osteuropa und damit auch in der DDR diskutiert. Atmen Sie auf?
Es ist sehr gut, dass der Kirchentag wieder deutlich politischer wurde. Die Thesen, die in den Achtzigerjahren gegen den Atomstaat aufgestellt wurden, gelten heute mehr denn je. Offenbar musste die Katastrophe von Fukushima passieren und uns wieder wachrütteln.
In Dresden sind 80 Prozent der Bevölkerung ohne Religion. War das der richtige Ort für einen Kirchentag?
Entscheidend ist die menschliche Seite. Hier konnte sich Kirche mitten im Leben und in der Gesellschaft zeigen. Das ist wichtig.
In der ehemaligen DDR waren Pfarrer eine wichtige Säule für den zivilgesellschaftlichen Protest. Hatten Pfarrer besondere Aufgaben?
Im Grunde keine anderen als anderswo. Pfarrer müssen am Puls der Zeit sein, aber nicht zeitgeistig. Sie müssen sowohl intensiv in die Bibel schauen als auch in die Zeitung und sich dann fragen: Was hat beides miteinander zu tun?
Und sie müssen jeden Sonntag im Gottesdienst in der Predigt die Bürger motivieren und auch mobilisieren?
Ja. Das mache ich, das habe ich immer gemacht. Und manche Kollegen machen das auch. Aber wir müssten mehr sein.
Gerade unter Protestanten müsste dieses Einmischen aber doch die Regel sein, ganz im Geiste Luthers. Warum ist das in Wirklichkeit eher die Ausnahme?
Das beginnt damit, dass die, die resigniert haben, gar nicht mehr in den Gottesdienst kommen, also dort auch gar nicht motiviert werden könnten.
Inwiefern liegt dies auch an der Art der Vermittlung und an der tatsächlichen Bereitschaft evangelischer Pfarrer, hier wirklich Positionen anzubieten?
Es stimmt schon, manchem Pfarrer erscheint es bequemer, sich »rauszuhalten«. Ich kann mir letztlich nicht erklären, warum sich so viele, Theologen wie Mitglieder der Gemeinden, aus gesellschaftlichen Aufgaben dispensieren. Immerhin: Es gibt auch Ausnahmen, Leuchttürme wie die Pfarrerin Ruth Misselwitz 84 . Oder das Publik-Forum 85 , eine Zeitung kritischer Christen. Oder Christian Wolff, ein begnadeter Prediger, der an der Thomaskirche in Leipzig ist. Aber es sind zu wenige. Hinzu kommt, dass immer mehr Köpfe in den »alten Hochburgen« inzwischen im Ruhestand sind. Ein Beispiel unter vielen ist Christian Führer 86 , früher Pfarrer an der Nikolaikirche in Leipzig, oder Heino Falcke 87 , einst Propst in Erfurt.
Geht es uns zu gut?
Ja, klar. Auf
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