Meine Wut rettet mich
Weizsäcker 90 , der jedes Jahr einmal zur Sitzung der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, nach Halle kam und in der Studentengemeinde einen Vortrag hielt.
Was hat Sie an ihm beeindruckt?
Erstens: Ich lernte, Denken und Glauben gehören zusammen. Zweitens: Es gibt Herausforderungen, die einen in schwerste Gewissensnöte bringen, denen man nicht ausweichen kann, sondern zu denen man eine Haltung entwickeln muss – Beispiel: Atomkraft. Drittens: Universalität. Von Weizsäcker war in der Lage, unterschiedliche Wissensbereiche zusammenzubringen. Er war eigentlich Kernphysiker, konnte aber auch über Kant Vorlesungen halten.
Sie kommen aus einem evangelischen Pfarrhaus, einem Elternhaus, das eine Kaderschmiede zu sein scheint. Die Pfarrersöhne Friedrich Nietzsche und Gottfried Benn wurden Philosophen, Pfarrerstochter Angela Merkel ist heute Bundeskanzlerin. Was war bei Ihnen zu Hause das Besondere?
Die Bibliothek meines Vaters. Ich habe nie Karl May gelesen, denn das gab es da nicht. Das ist sicher schade. Aber: In der Zeit, in der andere das lasen, habe ich Schillers Dramen gelesen. Mein Vater hat sie mir geschenkt. Ich bilde mir da nichts drauf ein, aber es stimmt einfach: Mich haben sie begeistert. Die Braut von Messina , Wilhelm Tell – die Urkonflikte des Menschen in der Politik bei Don Carlos –, ein Weltkrimi! Ich las Dostojewski, Kleist, Theodor Storm …
Welche Bücher haben bei Ihnen Einstellungen geprägt oder verändert?
Drei Bücher sogar ganz besonders. Von Walther Hofer die Dokumentation Der Nationalsozialismus . Mein Vater hat sie aus Westdeutschland rübergeschmuggelt; damals war ich 14, es stand noch keine Mauer. Ich war erschüttert, als ich las, in welchem Volk ich da lebe und welches Grauen wir Deutschen zu verantworten haben. Diese Erregung habe ich nie wieder verloren. Das zweite Buch ist von Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder . Er beschreibt darin seinen politischen Weg bis zu seiner Flucht aus der Sowjetischen Besatzungszone. Für mich ist eine besondere Glückserfahrung, dass ich Leonhard nach 1989 persönlich kennenlernte und wir uns anfreundeten. Das dritte Buch ist von Helmut Gollwitzer, Und führen, wohin du nicht willst , sein Tagebuch über die Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion. Dieses Buch hat mich davor bewahrt, in ein antisowjetisches Denken zu geraten. Gollwitzer hat nichts verschwiegen, was im Stalin-Reich passiert ist. Er hat mir aber auch auf sehr persönliche Weise größere politische Zusammenhänge klargemacht. Auch dieses Buch hatte ich von meinem Vater, und ich wusste, dass ich davon keinem erzählen durfte.
Irgendwann änderte sich das Verhältnis zu Ihrem Vater, Sie lehnten sich auf. Wie alt waren Sie da?
Das begann etwa, als ich 18 war.
Was war der Grund?
Er predigte mir zu unpolitisch. Wenn wir diskutierten, hatte er klare Positionen, im Gottesdienst erschienen mir seine Reden immer leerer. Heute muss ich sagen, dass ich nicht wirklich verstanden habe, in welcher riskanten Lage er sich sah. Es kam zu großen Spannungen, auch weil ich nicht begriff, was meine Eltern umtrieb.
Was gab den Anlass?
Ich habe den Wehrdienst verweigert, ohne mit ihm oder mit meiner Mutter vorher zu reden.
Wie haben sie reagiert?
Meine Mutter fragte: »Junge, warum tust du uns das an?« Da war das Tischtuch für mich zerschnitten.
Warum?
Vor allem mein Vater schuf die Grundlagen für mein Denken, und gerade er wurde nun in meinen Augen zum Zauderer. Wie konnte ihm recht sein, dass ich diesen Eid schwor auf die Nationale Volksarmee? Unbedingten Gehorsam! Ich verstand nicht, weshalb gerade meine Eltern so reagierten, und fühlte mich sehr allein. Heute begreife ich, dass sie fürchteten, ihren ältesten Sohn ins Gefängnis weggeben zu müssen. Ich hatte damals zum Glück Freunde, die ähnlich dachten wie ich und auch den Wehrdienst verweigerten. Wenige, aber es gab sie. Mein Bruder verweigerte nicht und legte sich später eine Begründung zurecht, weshalb er zur Volksarmee gegangen war. Ein Offizier sagte einem mit mir befreundeten Verweigerer im Gefängnis ins Gesicht, in seinen Augen sei einer wie ich schlimmer als ein Mörder. Über mir hing wie ein Damoklesschwert die dauernde Angst, verhaftet zu werden. Doch ich verbiete mir zu sinnieren, wieso es nicht runterfiel oder wie gefährlich es war. Ich bat: »Gott bewahre.« Und ich bin bewahrt worden. Ich möchte lieber solche Bewahrens-Erfahrungen preisen, als Bedrohungserfahrungen
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