Meine Wut rettet mich
europäische Einigung. Denn wir fürchteten, dass andernfalls der militärisch-industrielle Komplex der Sowjetunion und der sowjetische Sicherheitskomplex zuschlagen würden.
Hätten Ihnen soziale Netzwerke, hätten Ihnen Twitter, Facebook und Handy auch so geholfen, wie nun im sogenannten »Arabischen Frühling« 2011?
Wir hätten anders mobilisieren können. Die Erfindung des Fax durchbrach die Chance der Mächtigen, viele Informationen nicht an uns ranzulassen. Ich wohnte in einem Haus mit mehreren Wohnungen und einem einzigen Telefonanschluss. Kam ein Anruf, suchten wir denjenigen, dem das Telefonat galt. Alles wurde vollständig abgehört und protokolliert. Ich habe das erfahren, als ich mir meine Stasi-Akten angesehen habe. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich so viele Gespräche mit dem Westrundfunk geführt hatte, das machte mich dann ein bisschen stolz. Technik hilft zu mobilisieren. Aber am wichtigsten ist weiterhin der direkte Kontakt.
Die erste Enttäuschung war die Art der Wiedervereinigung. War die zweite die Art, wie man mit der DDR-Geschichte umgehen will?
Wir wollen die Gedanken des 9. Oktober 1989 fortsetzen, aber ohne Denkmäler. Ich bin gegen Denkmäler – die Demokratie ist das Denk-Mal, ein lebendiges Denkmal, und diese muss geschützt werden. Deshalb haben wir eine Stiftung Friedliche Revolution 89 gegründet, aus der heraus wir Projekte der Zivilgesellschaft und der Demokratisierung unterstützen und für gewaltlosen Widerstand plädieren.
Sie wollten sofort, 1991, ein Tribunal zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Deswegen ernteten Sie viel Kritik und empfanden sich in einer Situation, vergleichbar der, in der Luther sagte: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Was hatten Sie im Sinn?
Jeder, der in die DDR und in die SED verstrickt war, sollte schildern, wie das war. Es ging mir darum, zu verstehen und zu bewerten. Nicht ums Rechtfertigen, nicht ums Verurteilen. Man kann einen Menschen nicht auf eine Phase seines Lebens verkürzen. Ich wollte Strukturen aufdecken, erfahren, wie die Macht funktionierte, welche Rechtfertigungen es gab. Mein Hauptanliegen war, dass die Deutschen sich gegenseitig besser kennenlernen, sich von Feindbildern frei machen, mehr miteinander anfangen und besser miteinander auskommen.
Aber die meisten Leute wollten damals am liebsten überhaupt nichts mehr hören von der DDR. Bis heute ist dies ein sensibles Kapitel. Brenzlig wurde es für Sie, als Sie 1993 verlangten, die Stasi-Akten einem Feuer anzuvertrauen. Für diesen Satz bezogen Sie viel Prügel und fühlten sich missverstanden.
Ich musste x-mal erklären, wie ich das gemeint habe, und zwar einfach als Symbol für die Sehnsucht nach Befreitheit von solchen Altlasten, nicht als Freispruch für die Täter. Doch noch viele Jahre später klebte dieser Satz in Gesprächsrunden und Talks an mir. Mir haben die Reaktionen wehgetan. Ich stand da wie einer, der die Idee der friedlichen Revolution verraten hat. Doch das hatte ich überhaupt nicht getan, keine Sekunde.
„ Mein Vater hat in mir die politische Wachheit geweckt. ”
Wer und was prägten Sie besonders?
Dreierlei. Erstens mein Vater. Er hat mit mir zusammen jeden Tag im RIAS eine Kalte-Krieg-Sendung gehört, in der man über den Osten herzlich lachen konnte, und die Sendung »Echo des Tages« auf NWDR. Seit meinem sechsten Lebensjahr. »Echo des Tages« lief von halb sieben bis zehn nach sieben. Dort wurde aus aller Welt berichtet. Mein Vater erklärte mir, was ich da hörte, zum Beispiel als 1956 der Suezkrieg ausbrach. Als im Oktober 1956 der Aufstand in Ungarn niedergeschlagen wurde, schloss ich mit der DDR ab und freundete mich mit den demokratischen Sozialisten an. Mein Vater hat in mir die politische Wachheit geweckt. Zweitens: Mir wurde seit meiner Kindheit in der DDR das Gefühl vermittelt: Du gehörst hier nicht her, du bist überflüssig, du bist von vorgestern, dich Pastorensohn braucht hier niemand. Drittens: Die Studentengemeinde war sehr wichtig für mich. Dort war ich öfter als in der Fakultät.
„ Mir wurde seit meiner Kindheit in der DDR das Gefühl vermittelt: Du gehörst hier nicht her. ”
Warum?
All die Fragen, auf die ich Antworten suchte, standen in meinem Theologiestudium gar nicht zur Debatte. In der Studentengemeinde in Halle konnte ich jedoch regelmäßig mit Christen, die Physik studierten, Landwirtschaft oder Medizin, die Bibel auslegen und Gesellschaftsfragen diskutieren. Als Person prägte mich Carl Friedrich von
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