Meine Wut rettet mich
rekapitulieren und sie in mir wieder mächtig werden zu lassen.
Wie definieren Sie Freiheit?
Wie Dietrich Bonhoeffer in seinen Stationen der Freiheit : »Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.« 91
Von Bonhoeffer stammt auch die Aufforderung, die Kirche müsse dem Rad notfalls in die Speichen fallen 92 . Sehen Sie eine solche Situation kommen?
Sie ist bereits ganz und gar gegeben. Die kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft geworden, die um das Goldene Kalb tanzt. Dieser Tanz ums Geld widerspricht dem Corpus Christianum. Wir können nicht Gott dienen und auch noch dem Mammon. Die Welt ist völlig den Kriterien des Geldes unterworfen, globale Freiheit heißt heute nichts als grenzenloses Spekulieren auf Finanzmärkten, die mit der Realwirtschaft nichts mehr zu tun haben, sondern sie zerstören. Warum fragt kaum einer, wie unser Wohlstand überhaupt zustande kommt und zu welchem Preis? Oder was es heißt, dass Deutschland drittgrößter Waffenexporteur der Welt ist? Und ich frage mich: Wo bleibt der Protest der Kirche? Es gibt ein paar Gruppierungen, Ohne Rüstung leben oder das Institut Solidarische Moderne und so weiter, in denen bin ich auch engagiert. Aber wo bleibt die breite Empörung?
Was bedeutet für Sie heute Dietrich Bonhoeffer?
Er wusste, es gibt Situationen, in die man sich fügen muss. Und er wusste diese zu unterscheiden von jenen, in denen man Ja oder Nein sagen muss – nicht Jein. Er brachte das im Titel seiner Aufzeichnungen aus der Haft auf den Punkt: Widerstand und Ergebung . In der Reihenfolge: Widerstand, Ergebung. Ein sehr schöner Titel.
Was heißt für Sie sozial?
Ich bin für einen anderen mitverantwortlich und erfahre, dass sich der andere auch für mich mitverantwortlich fühlt.
Was ist gerecht?
Die Idee von der gleichen Würde jedes Menschen praktisch umzusetzen.
Was ist Schuld?
Wenn man weniger im Leben tut, als man könnte.
Wann spüren Sie Frieden?
Wenn ich in einer gotischen Kirche im Dunkeln Arvo Pärt 93 höre und der Raum sich erhellt durch eine Musik, die einfach himmlisch ist.
Was bedeutet für Sie Glauben?
Nicht verzweifeln an dem, was man noch nicht sieht.
PORTRÄT
Laufstarke Bischöfin, Meisterin des klingenden Worts
Klassischer, schwarzer Hosenanzug, weiße Bluse, dezenter Lippenstift, kurz geschnittene, blonde Haare: Die drahtige, kleine Frau, die mit Schwung das Marli-Café in Lübeck betritt, könnte eine Unternehmerin sein. Sie legt ihre Unterlagen auf den Tisch, bestellt Cappuccino und kommt sofort zur Sache. Das Café gehört zu einer Initiative, die Behinderte und Nichtbehinderte an einen Tisch, an einen Arbeitsplatz und miteinander ins Gespräch bringt. Brücken bauen, bewegen, reden – wir sind mitten im Thema. Kirsten Fehrs ist Bischöfin. In gewissem Sinne ist sie tatsächlich Unternehmerin. Sie steht einem Seelsorgeunternehmen vor mit 900.000 Mitgliedern in 226 Gemeinden in und rund um Hamburg und Lübeck. Einem Brückenbauerbetrieb, zu dessen aktuellem Großprojekt die Chefin die Überwindung der Kluft zwischen Arm und Reich im Firmengebiet erklärt hat. Der Sprengel Lübeck und Hamburg gehört zu der insgesamt 2,1 Millionen Mitglieder zählenden Evangelisch-Lutherischen Kirche Nordelbien.
Die Chefin will mit Worten bewegen. Ob Senat oder Suppenküche – sie will möglichst viele ansprechen und sie öffnen für eine »der Welt zugewandte Theologie«. Auf diesen Nenner bringt sie ihr Programm für ihre erste Amtszeit als Bischöfin. »Mich beruhigt dabei sehr, dass zehn Jahre vor mir liegen.« Denn es gebe ja so viel zum »ethischen Nachdenken« über Themen, bei denen es keine einfachen Antworten gibt, so viele Anlässe, »in den Dialog zu treten, wo Stummheit droht«. Und so vieles, wo sich etwas verändern, etwas bewegen muss. Auch deshalb joggt sie regelmäßig. Wenn sie sich bewegt, kommen manche Gedanken in ihr ebenfalls in Bewegung. Gedanken, die helfen sollen, etwas anzustoßen.
Das lässt viel erwarten. Und führt zu Wurzeln des Glaubens: »Im Anfang war das Wort« beginnt die Schöpfungsgeschichte im Ersten Buch Moses. Dem Wort und der Kraft der Bibel zu folgen, entspricht lutherischer Tradition. Diskutieren und streiten ist ohnehin »gut protestantisch«. Es genüge nicht, die Bibel zu besitzen, spielt Kirsten Fehrs auf den reißenden Absatz an, den eine gut ausgestattete
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