Meineid
Wachs – direkt auf die bösen Stellen. Als er acht Jahre alt war, wurde ein Lehrer zumindest auf die versengten Hände aufmerksam. Das Jugendamt schritt ein. Es folgte die Heimeinweisung. Erträglicher wurde das Leben damit für ihn nicht. Es gab Misshandlungen für jede Verfehlung, meist Stockschläge. Er reagierte in solchen Fällen wie üblich mit Trotz. Mit zwölf folgte die Verlegung in ein Heim für schwer Erziehbare und kurz darauf der erste sexuelle Missbrauch durch einen älteren Jungen. Später folgten andere Heime und andere Jungen, auch Erzieher. Für Greta war es der blanke Horror, neben Jan am Computer zu sitzen mit der alten Prozessakte im Hinterkopf. Sie kannte viele Scheußlichkeiten aus Anklageschriften, wusste, was Menschen einander antun konnten. Aber es waren immer Fremde gewesen, die davon betroffen waren. Es war nie um einen Menschen gegangen, den sie liebte. Mit mir darüber zu reden, wagte sie nicht. Ich hatte meine Schlüsse gezogen. Kein bisschen Wärme, keine Geborgenheit, keine Spur von Liebe in den ersten vier Lebensjahren. Ein schwächlicher Vater und eine Mutter, die ihrem Sohn einen unerbittlichen Frauenhass eingeprügelt haben musste.
«Kannst du dir nicht vorstellen, was dabei herauskommt?, fragte ich jedes Mal, wenn das Thema zur Sprache kam.
«Jan war alt genug, um seine Mutter in lebhafter Erinnerung zu behalten. Er hat nichts anderes erlebt als Gewalt. Er ist nicht imstande, echte Gefühle zu entwickeln, weil er das nie gelernt hat, Greta. Und du hast dich gewundert, warum er bei dir nicht anbeißt, wo ihr euch doch von Anfang an so gut verstanden habt. Das ist die Erklärung. Wahrscheinlich musst du dankbar sein für seine Hemmungen. Er mag dich, du bedeutest ihm etwas. Er weiß, er würde dich verletzen, wenn mehr daraus wird. Deshalb hält er dich auf Distanz. Bei Tess hat er diese Skrupel nicht. Sie hat ihm genug von Mandys Vater erzählt. Eine Frau mit einschlägiger Erfahrung steckt eher etwas weg, so sieht er das vermutlich.»
«Das ist doch Unsinn, widersprach sie regelmäßig und fragte sich insgeheim, ob Tess die entsprechenden Textpassagen ebenfalls gelesen hatte. Die fromme Großmutter, heißes Wachs auf böse Stellen, die barmherzig prügelnden Schwestern im ersten Heim und all das, was noch nachgekommen war. Wenn Tess es gelesen hatte und der Meinung war, kein Mensch sei bereit, Jan zu verurteilen, solange sie nur auf seinen Geiz schimpfte. Wenn Tess sich entschlossen hatte, ihre wilden Geschichten einmal ohne Worte zu erzählen, weil sie genau wusste, Greta hätte ihr kein Wort geglaubt … Wenn! Und: Kannst du dir nicht vorstellen, was dabei herauskommt? Natürlich konnte Greta sich das vorstellen, nur nicht bei Jan. Nicht jeder wurde zum Monster geprügelt, manche schöpften aus den Misshandlungen in ihrer Kindheit Kreativität. Die Verbindung, die ich zwischen dem Tod seiner Mutter und seinem Kampf um den Roman zog, hielt Greta für ausgemachten Schwachsinn. Ich sah es so: Jans Mutter hockt auf dem Fußboden, wischt die Bierlache auf und brüllt auf ihren Sohn ein. Der Junge weiß aus Erfahrung, wenn sie mit Wischen fertig ist, gibt es Prügel. Das Schälmesser liegt griffbereit auf dem Tisch oder in der Schüssel. Und der Hals der Frau ist in einer Höhe, die ein kleines Kind mühelos erreichen kann. Ein vierjähriger Junge sticht seine Mutter ab! Auf so einen Gedanken könne nur ich kommen, meinte Greta. Jans Vater habe schließlich vor seinem Freitod erneut ein Geständnis abgelegt. Wieder und wieder erklärte ich:
«Jans Vater dürfte im Gefängnis zum ersten Mal Zeit gehabt haben, über sein verpfuschtes Leben nachzudenken. Klar im Kopf dürfte er auch gewesen sein. Er hatte nicht das Geld, sich mit Bier versorgen zu lassen. Er wusste, dass nur einer als Täter in Frage kam, sein Sohn. Jans Vater liebte seinen Sohn. Was konnte er noch für ihn tun, als die Schuld auf sich nehmen und ihm viel Glück für die Zukunft zu wünschen?»
«Du bist verrückt, war Gretas Standardantwort. Und ich sagte dann meist:
«Greta, ich will nicht auf einer Sache herumreiten, die mehr als dreißig Jahre zurückliegt. Man kann Jan nicht für den Tod seiner Mutter zur Verantwortung ziehen. Ein kleines Kind ist nicht schuldfähig. Aber er hat dir doch gesagt, wer seine Mutter getötet hat. Nicht wörtlich, aber gesagt hat er es. Was ist denn der Kernpunkt in seinem Roman? Ein Revisionsverfahren, in dem ein Unschuldiger rehabilitiert werden soll. Sein Vater war
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