Meineid
presste für ein paar Sekunden die Lippen aufeinander, dann sprach er weiter über seine Unzufriedenheit mit den beiden neuen Szenen.
«Die Seiten lesen sich wie ein Drehbuch. Handlung und Dialog. Ich kann die Leute zur Not noch denken lassen. Aber sie fühlen ja auch etwas.»
Mandy lief zwischen der Sandkiste und Jans Sessel hin und her, kippte ihm eimerchenweise Material auf den Schoß. Tess wischte ihm den Sand von den Beinen und meinte lächelnd:
«Um über Gefühle schreiben zu können, muss man welche haben, Schatz.»
Jan starrte sie an, als hielte er sich nur mit Mühe in seinem Sessel. Ich hatte den Eindruck, er wäre liebend gerne aufgesprungen und hätte sie geschlagen.
«Wirf nicht gleich die Flinte ins Korn», sagte Greta hastig und legte ihm eine Hand auf den Arm – wie um ihn im Sessel festzuhalten.
«Darf ich die beiden Szenen sehen?»
Er nickte und ging ins Haus, um die Seiten auszudrucken. Greta folgte ihm. Als beide außer Hörweite waren, fragte ich:
«Bist du auch mit der Uhr in der Waschmaschine hängen geblieben?»
Tess strich eine Haarsträhne aus der Stirn und betrachtete mich beinahe feindselig.
«Nein, das Band scheuert. Ich werde mir bei Gelegenheit ein neues kaufen. Hast du sonst noch Fragen?»
«Entschuldige», sagte ich.
«Ich wollte nicht indiskret werden. Ich dachte nur, du solltest wissen, wo du Hilfe findest, wenn du sie brauchst.»
Tess lächelte kühl.
«Vielen Dank, Niklas. Ich komme sehr gut alleine zurecht.»
Dann beschäftigte sie sich mit Mandy, bis Jan und Greta zurück auf die Terrasse kamen. * Jan hatte zehn Seiten ausgedruckt. Wir nahmen sie mit und lasen sie gemeinsam. Es waren zwei schlimme Szenen, und das lag nicht an der trockenen Sprache. In der ersten Szene stritten ein Mann und eine Frau in einer Küche. Der Mann trank dabei Bier direkt aus der Flasche. Die Frau saß auf einem Stuhl, hielt eine Schüssel mit Kartoffeln auf dem Schoß und ein Schälmesser in der Hand. Sie schrie hysterisch auf den Mann ein. Ihr kleiner Sohn drückte sich in eine Ecke. Er hatte Angst. Dem Mann fiel die Flasche aus der Hand. Das Bier ergoss sich über den Fußboden. Die Frau beschimpfte ihn unflätig. Der Mann verließ die Küche. Die Frau wandte sich dem Kind zu. Ihr gesamter Frust und der Hass entluden sich über den kleinen Jungen. In der zweiten Szene lag die Frau auf dem Fußboden – in einer Lache aus Bier und Blut. Sie hielt einen Wischlappen in der Hand. Neben ihr lag das Schälmesser. Ihr Hals war zerfetzt. Ihr kleiner Sohn drückte sich in eine Ecke. Er weinte.
«Das habe ich mir gedacht», sagte ich.
«Er kann wirklich nichts anderes, als Frauen niederzumetzeln. Es hätte doch zur Abwechslung mal der Mann sein können.»
«Hör auf zu lästern, verlangte Greta.
«Es ist jedenfalls keiner von seinen üblichen Morden. Es ist ein soziales Drama. Wenn er das durchhält, aus dem Stoff lässt sich etwas machen.»
Einen anderen Kommentar hatte ich nicht von ihr erwartet. Ich kam auf Tess’ Handgelenke zu sprechen. Greta winkte genervt ab.
«Sie hat dir doch erklärt, wie sie sich verletzt hat.»
«Die Abschürfung rechts zog sich um das gesamte Gelenk», sagte ich.
«Wie soll das passiert sein? Und dann an beiden Armen. Für mich waren die Verletzungen typisch. Und dir muss ich doch nicht erklären, für was.»
Greta vertrat zu dem Zeitpunkt einen Jugendlichen aus der rechtsradikalen Szene, der einen Altersgenossen mit Handschellen gefesselt und misshandelt hatte. Die Spuren an den Handgelenken des Opfers waren identisch mit denen von Tess. Greta tippte sich an die Stirn.
«Handschellen! Du spinnst doch. Vielleicht war es Schminke. Zum Hochzeitstag hat Jan sie nur mit dem obligatorischen Rosenstrauß bedacht. Das verzeiht sie ihm nie. Meinst du, sie hätte das Armband umsonst vorgeführt? Sie hat in den letzten Monaten kaum noch Schmuck von Mandys Vater getragen.»
Ich zählte auf, wie viele Abschürfungen ich schon bemerkt hatte, grundsätzlich an Handgelenken und Fußknöcheln. Und den Wespenstich auf dem Hintern nicht zu vergessen. Greta berief sich auf die beiden Herzenswünsche im Schulheft und den Einbrecher. Ich hielt dagegen, dass Tess inzwischen erwachsen war und eben nichts erzählte, mit Ausnahme des Satzes über Gefühle.
«Das reicht doch für dich, meinte Greta.
«Ich kenne sie besser und entschieden länger als du. Jan mag etwas schwerfällig sein. Aber er ist kein Sadist. Das ließe sie sich von ihm nicht bieten. Bei
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