Meinen Sohn bekommt ihr nie
und die Geschwindigkeit, mit der sich die Dinge zu Hause verändern, machen mir langsam Angst.
Shai betet nun dreimal täglich. Er fehlt bei keiner rituellen Waschung und bei keinem Dankgebet und geht jeden Morgen vor dem Beten sowie am Abend vor dem Sabbat und vor religiösen Feiertagen ins Ritualbad. Er weigert sich rundweg, abends etwas zu unternehmen, ins Kino oder ins Restaurant zu gehen oder einfach in einem StraÃencafé etwas zu trinken. Seine Familie sieht er kaum noch, er entfernt sich von seinen Freunden. Nur bei Tomer, seinem Freund im Rollstuhl, macht er eine Ausnahme. Mit ihm geht er jede Woche schwimmen. Von Daoud, seinem drusischen Freund, möchte er nichts mehr wissen. Unser soziales Leben verödet immer mehr.
An einem Sabbat, als wir auf dem Weg zu Rabbi Asaria sind â ich einige Schritte hinter Shai, den Kinderwagen schiebend, das Haar unter einem Hut verborgen â, zieht sich mein Herz zusammen beim Anblick all der eng umschlungenen Paare und der Menschen, die sich in den Bars und StraÃencafés vergnügen. Noch gestern gehörte ich zu dieser ausgelassenen, unbeschwerten Menge. Mit einem Mal ist mir zum Heulen, ich möchte mein früheres Leben zurückhaben.
Ich hole Shai ein. «Warum bist du so extrem geworden?»
«Im Judentum gibt es keine Extreme», antwortet er. «Es gibt nur die Thora und die Gebote.»
Es gibt exakt 613 Gebote in der jüdischen Religion. Falls Shai sie alle zu befolgen gedenkt, wird mein Leben zur Hölle werden. Und ich bin auf bestem Weg dorthin.
Shai verlangt von mir, zweimal wöchentlich nach der Arbeit die Tanja-Kurse zu besuchen, die Rabbi Asaria für Frauen anbietet. Ich mache mit, weil ich hoffe, dass uns das wieder näherbringt. Doch stattdessen wendet er sich immer mehr von mir ab. Abends nach der Arbeit setzt er mich mit dem Kind zu Hause ab und verschwindet dann für Stunden beim Rabbi, ohne mir zu erklären, was er dort genau tut. Morgens kehrt er immer später vom Gebet heim, so dass ich regelmäÃig unpünktlich bei der Arbeit erscheine und mir irgendwelche faulen Ausreden einfallen lassen muss: Ich hätte eine Autopanne, Noam sei krank, oder Shai habe einen Zahnarzttermin.
Ich weise ihn darauf hin, dass ich Ãrger bekommen könnte.
«Es ist nicht schlimm, wenn du deinen Job verlierst. Gott wird uns helfen.»
Von Respekt, Offenheit und Toleranz ist keine Rede mehr, und dass ich so lebe, wie ich es für richtig halte, ist völlig ausgeschlossen. Mein Mann diktiert mir pausenlos seine neuen Vorschriften. Er zwingt mich zum Beispiel, das ganze Geschirr auszutauschen. Das alte, das er kaschern lieÃ, ist in seinen Augen nicht mehr rein genug.
Eines Abends, als ich aus der Dusche komme, fährt er mich an: «Zieh dir was über.»
«Bitte?», frage ich.
«Du hast mich schon verstanden. Das ist kein passender Aufzug. Von jetzt an möchte ich, dass du mir geziemend unter die Augen trittst.»
Ich denke, er scherzt, und fange an zu lachen. Doch Shai verlässt wütend die Wohnung, indem er die Tür zuknallt.
Als er kurz darauf im Ehebett nur mit dem Tzitzit, seinem Gebetsschal, bekleidet Annäherungsversuche unternimmt, kann ich mir das Lachen nicht verkneifen. Diese Episode wird das Ende unserer intimen Beziehung einläuten.
Eines Morgens höre ich beim Aufwachen ein Gluckern und Gebetsgemurmel. Shai hat eine Schüssel Wasser ans Bett gestellt, damit ich mir die Hände wasche, bevor ich unseren Sohn anfasse. Es ist unfassbar! Das geht mir alles zu weit.
Und nicht nur Shais Denken, auch sein Aussehen verändert sich. Nun trägt er keine Jeans mehr, sondern schwarze Hosen und über dem Tzitzit weiÃe Hemden. Auf dem Kopf trägt er immer die Kippa. Später wird er sie gegen einen Filzhut eintauschen, der über dem langen schwarzen Mantel, mit dem sich die Chassidim traditionell kleiden, in die Höhe ragt.
Der schöne Mann, der mir einmal den Kopf verdreht hat, ist nicht mehr wiederzuerkennen. Und er benimmt sich mir gegenüber geringschätzig. Er geht so weit, mir zu unterstellen, dass die Muttermilch für Noam nicht koscher genug sei, weil man nicht wisse, was ich auswärts esse.
In den wenigen Monaten seit Noams Geburt ist aus meinem Ehemann Shai ein Fremder geworden.
Es ist Frühling, Pessach rückt näher. Die Essensgesetze für dieses Fest, das ganze acht Tage dauert, sind äuÃerst streng. Alle
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