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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabelle Neulinger
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gegangen ist. Jedenfalls entschuldigt er sich, als wir wieder zu Hause sind. Ich mache ihm noch einmal klar, dass er sich als Schwiegersohn allerhand herausgenommen hat und dass ich meine Eltern in Zukunft ohne ihn besuchen werde.
    Die Dinge renken sich wieder ein. Shai ist in seinem vertrauten Umfeld, und ich habe mit Noam und dem bevorstehenden Wohnungswechsel alle Hände voll zu tun.

    Wir müssen nach unserer Rückkehr aus Europa erneut umziehen. Das Erdgeschoss, das wir bewohnen, ist in einem so desolaten Zustand, dass man es einem Neugeborenen unmöglich zumuten kann. Ich finde eine Wohnung im zweiten Stock eines Neubaus, nicht weit vom Meer. Da nur ich eine feste Anstellung habe, unterzeichne selbstverständlich auch ich den Mietvertrag. Shai hat, wie besprochen, seine Stelle als Lehrer aufgegeben, um sich um Noam zu kümmern.
    Wir sind gerade eingezogen, als mein Mutterschaftsurlaub zu Ende geht. Für mich beginnt wieder der Arbeitsalltag, während Shai die Rolle des Hausmanns einnimmt. Er wird das Auto bekommen, mich morgens zur Arbeit fahren und abends wieder abholen.
    In meiner naiven Vorstellung verbringt Shai die Tage mit Windelnwechseln, Mittagsschläfchen und Spaziergängen im Park. In Wirklichkeit hat er die Chabad-Lubawitsch-Bewegung kennengelernt und durch sie Rabbi Daniel Asaria.
    Bei dieser Bewegung handelt es sich um eine im 18. Jahrhundert in Weißrussland gegründete chassidische Gemeinschaft. «Chabad» setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der hebräischen Wörter Chochma, Bina und Da’at, die «Weisheit», «Verständnis» und «Wissen» bedeuten, zusammen; «Lubawitsch» geht auf den Namen der Stadt zurück, in der die Bewegung ein Jahrhundert lang ihren Sitz hatte. Heute bildet sie einen Hauptstrang des Chassidismus. Ihre Mitglieder, die weltweit aktiv und besonders fromm sind, versuchen, mit ausgeprägtem Bekehrungseifer säkulare Juden zu einer strengen Ausübung ihrer Religion zu bewegen. Man findet sie hauptsächlich in großen Ballungsgebieten, wo viele säkulare Juden leben. Diese werden zu Lesungen aus dem Buch Tanja, dem zentralen Werk der Chabad-Chassidim, zur Feier des Sabbats und zu anderen religiösen Festen eingeladen und angehalten, auch auf offener Straße Gebetsriemen, Tefillin, am linken Arm und an der Stirn zu tragen. Die freudige Hingabe an Gott steht für die Lubawitscher immer im Vordergrund.
    Ich habe schon von dieser Bewegung, insbesondere von Rabbi Schneerson, dem siebten und bislang letzten Oberhaupt der Chabad-Dynastie, gehört. Der «Rebbe», wie er auch genannt wird, leitete in Brooklyn ein Zentrum und wird von seinen Anhängern über alle Maßen verehrt und von vielen sogar noch lange nach seinem Tod als der Messias betrachtet.
    Während ich mich um den Haushalt kümmere, die Wäsche mache, einkaufe, morgens Milch für Noam abpumpe, Miete und Rechnungen bezahle, verbringt Shai, ohne mir davon zu erzählen, immer mehr Zeit bei den Chabad-Chassidim und widmet sich der Lektüre des Buchs Tanja und seinen Gebeten. Ich gehe davon aus, dass er, nachdem er mich bei der Arbeit abgesetzt hat, den Kleinen im Park spazieren fährt, doch stattdessen studiert er stundenlang in einer Synagoge ohne Sonnenlicht und frische Luft die Thora – Noam liegt im Kinderwagen neben ihm. Doch damit nicht genug. Draußen auf der Straße spricht er Passanten an und sammelt, mit Noam auf dem Arm, Spenden für die Lubawitsch-Bewegung. Dies werde ich jedoch erst später erfahren.
    Als Shai und ich einmal mit Noam spazieren gehen, laufen wir Rabbi Asaria über den Weg. Er macht mich sofort misstrauisch. Mit seinem ellenlangen Bart und dem stechenden Blick finde ich ihn irgendwie unheimlich, wie eine Art chassidischen Rasputin. Er lädt uns ein, den Sabbat bei ihm zu verbringen, zufälligerweise wohnt er nur zwei Straßen weiter. Widerwillig begleite ich Shai und stelle überrascht fest, dass unter den zahlreichen Gästen auch viele junge Paare und säkulare Juden sind.
    Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass sich Shai mit seinem Idealismus und seinem Hang zum Mystischen schnell von diesem Rabbi einnehmen und instrumentalisieren ließ. Die Aussicht, in die Geheimnisse der Kabbala eingeweiht zu werden, war zu verlockend.

Eskalation
    Das Jahr 2004 hat begonnen, und Shais Wandlung vollzieht sich immer rasanter. Die Richtung, in die sich unser Alltagsleben entwickelt,

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