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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabelle Neulinger
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nicht etwa, dass du wie eine Prostituierte gekleidet mit meinem Sohn auf die Straße gehen wirst?»
    Im ersten Moment bin ich nicht in der Lage, irgendetwas zu erwidern. «Du hast recht, ich werde mich umziehen», sage ich, als ich mich wieder gefangen habe.
    Wie ferngesteuert ziehe ich eine Bluse und ein Jäckchen an, tausche die Sandalen gegen geschlossene Schuhe, verberge mein Haar unter einem Hut und streife mir noch Strumpfhosen über, obwohl das Thermometer draußen schon auf fast dreißig Grad geklettert ist.
    Als ich mein Bild im Spiegel sehe, weiß ich mit einem Mal, dass es aus ist zwischen uns, dass ich aus dieser Ehe raus und der ganze Spuk ein Ende haben muss. Ich muss diesen Mann verlassen, möchte ich nicht meine Identität, meinen Verstand verlieren.
    An diesem Morgen habe ich einen anderen Mann gesehen, einen Fremden, der mich verachtet. Für mich existiert unsere Ehe nicht mehr.
    Unter Shais Blick verlasse ich das Haus ganz ruhig, wie in Trance. Doch bei der Arbeit sacke ich vor meiner Chefin zusammen. Als ob ein Deich gebrochen wäre, sprudelt alles aus mir hervor, was ich in den ganzen Monaten für mich behalten habe. Ich erzähle ihr alles, die Feindseligkeit, die Demütigungen, die Verachtung, die Gründe für mein wiederholtes Zuspätkommen. Mich ihr anzuvertrauen, erleichtert mich. Ich gestehe ihr auch, dass ich aus Scham nicht schon früher darüber gesprochen habe.
    Meine Chefin, die Shai schon mehrmals begegnet ist, ist fassungslos. Doch sie erklärt mir, dass das Phänomen der Rückbesinnung auf die Religion häufig einen Keil zwischen die Familien treibe, sei es zwischen Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern oder Mann und Frau. Manchmal seien die Konflikte, die hierdurch entstünden, unüberwindbar.
    Â«Wir müssen einen Anwalt finden», schlussfolgert sie.
    Um guten Rat ist diese intelligente und verständige Frau nicht verlegen. Mir sind die Gesetze des Landes und die Trennungsformalitäten vollkommen fremd. Wie andere Jüdinnen weiß ich nur, dass der Mann den Scheidebrief, den Get, ausstellen muss und dass dafür ein Gang zum Rabbinatsgericht notwendig ist. Und wie alle Frauen kenne ich die damit verbundenen Risiken: Wird einer Frau die Scheidung verwehrt, bleibt sie eine Aguna, eine «Gebundene», bis sie den Scheidebrief erhält, was Monate, Jahre, wenn nicht ein ganzes Leben dauern kann. Verweigert der Ehemann den Get, kann die Frau nicht wieder heiraten und wird als Ehebrecherin betrachtet, wenn sie wieder eine Beziehung eingeht. Bekommt sie außerhalb der Ehe Kinder, gelten diese als uneheliche Mamserim. Mamserim dürfen keine Juden heiraten außer anderen Mamserim oder zum Judentum Bekehrte, und dies über Generationen hinweg. Dagegen darf ein Mann, der seiner Frau die Scheidung verweigert, mit einer anderen Frau zusammenleben und mit ihr Kinder haben, die vollwertige Juden sind.
    Auf keinen Fall darf ich jetzt in Panik geraten und überstürzt handeln. Meine Vorgesetzte hat recht, vor allen Dingen brauche ich einen Anwalt. Und Shai darf nichts davon erfahren.

    Igal hat sich auf Familienrecht spezialisiert. Sein Name bedeutet «Er wird befreien», was mir sehr passend erscheint. Heimlich suche ich ihn in seinem Büro auf und lege ihm ohne Umschweife meine Befürchtungen dar. Was, wenn Shai mir die Scheidung verweigert, wenn er mich an sich kettet, mir keine Wahl lässt?
    Die Lage ist noch viel komplizierter, als ich dachte. Zum Glück weiß der Anwalt, was auf dem Spiel steht. Unverzüglich erklärt er mir die Besonderheiten des israelischen Rechtssystems. Wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen beim zivilen Familiengericht Klage einreichen, bevor sich Shai an das Rabbinatsgericht wenden könnte. Dann nämlich wäre der Fall klar: Ich hätte überhaupt kein Recht mehr auf meinen Sohn.
    Igal klärt mich auch auf, dass in Israel alle Fragen, die den Personenstand betreffen, also Heirat, Scheidung, Abstammung, ausschließlich jüdischem Recht unterliegen. Für die Regelung dieser Angelegenheiten gibt es keine zivile oder weltliche Rechtsprechung. Die Scheidung gilt dann als vollzogen, wenn die Frau vor den jüdischen Richtern, den Dajanim, eine handgeschriebene und frei gewährte Erklärung vom Ehemann erhält. Durch sie bekundet er seine Bereitschaft, den Bund der Ehe zu lösen. Im israelischen Rechtssystem ist die Scheidung also

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