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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabelle Neulinger
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nicht durch ein Gerichtsurteil, sondern durch die Ausstellung des Get vor dem Rabbinatsgericht rechtskräftig. Über die eher praktischen Fragen wie das Sorge- und das Besuchsrecht und die Unterhaltspflicht wird unabhängig davon vom zuerst angerufenen Gericht, dem Zivilgericht oder dem Rabbinatsgericht, entschieden, und zwar noch bevor der Get ausgestellt wird. Daher ist es so wichtig, dass wir die Ersten beim Familiengericht sind.
    Auch erläutert Igal, dass der Ehemann gemäß der Halacha die Scheidung verlangen kann, indem er geltend macht, dass seine Frau «aufsässig» sei, die monatlichen Besuche im Ritualbad unterlasse oder sich gegenüber ihrem Umfeld «vulgär» verhalten habe.
    Wenn Shai diese Argumente vorbringen würde, um mir meinen Sohn wegzunehmen? Der Gang zum Familiengericht duldet in der Tat keinen Aufschub.
    Im Rahmen der von uns gewählten Vorgehensweise schlägt Igal vor, das Sorgerecht für Noam und Unterhaltszahlungen zu beantragen und Shai ein regelmäßiges Besuchsrecht einzuräumen. Vor allem aber wird er versuchen, bei den Behörden ein Ausreiseverbot für meinen Sohn zu erwirken. Die Vorstellung, Shai könnte Noam zum Hauptsitz der Lubawitsch-Gemeinschaft nach New York bringen, sobald er von meiner Trennungsabsicht erfährt, macht mir große Angst. Ich ahne nicht, dass mir diese Maßnahme wenig später selbst zum Verhängnis werden wird.

    Mai 2004. In einem Monat wird Noam ein Jahr alt werden. Daheim verhalte ich mich genau wie sonst – den Schein wahren und Shai bloß nicht misstrauisch machen. Gewissenhaft besuche ich die Kurse von Rabbi Asaria und täusche Interesse an den Lehren des «Rebbe» vor. Dieser ernannte sich selbst vor seinem Tod zum «Propheten seiner Generation». Von seinen Anhängern wurde er daraufhin prompt zum neuen Messias erkoren. Für viele Juden handelt es sich dabei um Götzenverehrung, weshalb dieser Glaube häufig abgelehnt wird. Shai hängt dagegen ganz und gar diesem Personenkult an. Auf Schritt und Tritt begleitet ihn der «Rebbe», in jedem zweiten Satz ist von ihm die Rede. Wenn wir den Sabbat bei Rabbi Asaria verbringen, verhalte ich mich genauso. Der Rabbi soll glauben, dass ich seit unserem Gespräch Vernunft angenommen habe. An einem Abend nach dem Kurs lobt mich Asaria gar für meine Fortschritte.

    Da ich Noam noch stille, bin ich seit fast einem Jahr von der Pflicht entbunden, ins Ritualbad zu gehen. Doch dieses Glück ist nicht von Dauer, denn irgendwann stellt sich meine Menstruation wieder ein. Shai kann ich es unmöglich verheimlichen, weshalb mir nichts anderes übrig bleibt, als wieder in die Mikwe zu gehen. Als ich zurückkomme, verlangt Shai, dass wir intim werden, und vollzieht sein eheliches Recht in exakt drei Minuten. Er bemerkt nicht einmal, wie unangenehm mir das Ganze ist.
    In dieser angespannten Situation kündigen meine Eltern ihren Besuch an. Sie wollen die Geburtstage von Shai und Noam mit uns feiern. Gleich nach ihrer Ankunft weihe ich sie ein, wie unerträglich alles für mich ist. Sie dachten noch, Shai hätte sich beruhigt, und fallen aus allen Wolken.
    Am Freitagabend spitzt sich die Lage zu. Aus Versehen betätige ich die elektrische Jalousie, weil ich Noams Kinderwagen vom Balkon hereinholen möchte, den ich dort vergessen habe.
    Â«Wie kannst du es wagen, in meinem Haus den Sabbat zu missachten?», fährt mich Shai an und hebt drohend die Hand. Noch nie habe ich ihn so wütend erlebt. Mein Vater kann sich gerade noch beherrschen, ihn nicht am Kragen zu packen.
    Unauffällig beschwöre ich meinen Vater, unter keinen Umständen die Nerven zu verlieren. Es wäre zu riskant für den Prozess, den ich ohne Shais Wissen führe. Mein Vater willigt murrend ein, obwohl er Shai nur allzu gern einmal die Leviten gelesen hätte.
    Nicht lange, und ich stelle fest, dass ich wieder schwanger bin: dieser metallische Geschmack im Mund, das unbändige Verlangen nach Coca-Cola, obwohl ich sonst nie einen Schluck trinke. Eine Ultraschalluntersuchung bestätigt meine Befürchtungen, seit sechs Wochen und zwei Tagen bin ich schwanger. Ich breche in Tränen aus. Noam war ein Wunschkind, ein Kind der Liebe. Doch nun erwarte ich das Kind eines Mannes, der mir völlig fremd geworden ist und gegen den ich klammheimlich gerichtlich vorgehe. Schon jetzt steht für mich fest, dass ich unter diesen Umständen

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