Meines Bruders Moerderin
sie nicht mehr so genau. Sie hatten getrunken, sie wollte reden, er schenkte ihr dauernd nach. Sie hatten gestritten, geschrien. Er hatte sie geschlagen. Sie hatte sich gewehrt. Aber er war viel stärker, sie konnte nur sein Gesicht zerkratzen. Vier blutrote Striemen vom linken Auge bis zum Kinn. Danach war sie angeblich zusammengebrochen.
Als sie wieder aufwachte, war es sehr hell. Sie lag in einem weichen Bett, in frisch duftender Baumwollwäsche, die Sonne schien durch ein großes Fenster und zeigte ihr eine blumenübersäte Wiese, blühende Mirabellenbäume, weiche Hügel, einen silbern schimmernden See vor dichtem Tannenwald und dahinter die Alpen mit dem Iseler, majestätisch gezackt gegen einen fast italienischen blauen Himmel. Wie ein altes Ölgemälde. Wunderschön. Sie war glücklich. Es dauerte lange, bis sie bemerkte, dass die Raster im Bild in Wirklichkeit das Maschengeflecht vor dem Fenster waren.
Er hatte sie in ein Irrenhaus gesteckt. Psychiatrische Privatklinik Prof. Dr. Dr. Müllerhahn. Sehr diskret. Die meisten Patienten waren überstresste Manager und reiche Ehefrauen auf Entzug. Von was auch immer. Ein paar halb tote Teenager. Alles nur vom Feinsten. Die Drogen und Medikamente hielten sie in einem zufriedenen Schwebezustand. Die Sitzungen und Gruppengespräche gaben ihr eine Illusion von Realität. Als sie das nach fast zwei Jahren endlich begriffen hatte und durchschaute, als sie es endlich schaffte, ihre tägliche Drogenration heimlich zu vernichten, als sie langsam wieder klar denken konnte, war es längst zu spät.
Werner Warwitz hatte die Kinder, und sie hatte nichts. Kein Geld, sobald sie die Klinik verließ, keinen Versorgungsausgleich. Keinerlei Rechte.
Sie war immer noch sehr schwach, sie war allein, und sie stand bei Null. Sie schrieb sich wieder an der Uni ein, um wenigstens versichert zu sein. Europäisches Recht. In einer Juristen-WG fand sie eine Bleibe, umsonst gegen Putzen, Kochen und Hilfe bei den Klausuren. Ihr Ruf und ihre Gutmütigkeit sprachen sich herum, und erst als ein Mädchen aus der WG ihr eine Semesterarbeit dankbar mit richtigen D-Mark bezahlte, begann sie Geld zu nehmen. Für eine Arbeit zum Thema Haftrecht bekam sie genug, um ein Jahr bescheiden, aber sorgenfrei zu leben.
Sie hatte keinerlei Skrupel. Der Gedanke der Ungesetzlichkeit kam ihr gar nicht. Sie war noch so voller Hass und Verzweiflung, voller Sehnsucht nach ihren Kindern, dass sie nur eins denken konnte: Weiterkommen, Geld verdienen, frei werden.
Sie schnüffelte tage- und nächtelang bei der Villa Warwitz herum, aber die Kinder waren nicht mehr da. Ein Zufall half ihr weiter. Sie hatten im ersten Jahr einmal Urlaub auf Mallorca gemacht. Dort hatten sie ein Ehepaar aus Dortmund kennen gelernt und einen losen Postkartenkontakt aufrechterhalten. Durch sie erfuhr Dagmar, dass Warwitz sich eine alte Finca gekauft und luxusrenoviert hatte, und dass die Kinder mit Helen dort lebten, dass er regelmäßig rüberflog.
Dagmar belegte einen Spanischkurs und verlegte sich voll auf spanisches Recht. In Rekordzeit schloss sie mit Erfolg ab. Sie schrieb noch zwei Arbeiten zu den Themen Anwaltliche Werbung im Internet und Europäische Grundrechtecharta fertig, kassierte und flog mit kleinem Gepäck one way nach Mallorca.
Sie fand ein billiges Hotelzimmer und begann mit der Jobsuche. Sie klapperte alle Anwälte der Insel ab, aber keiner brauchte eine deutsche Kollegin ohne spanischen Abschluss und Zulassung. Ihre Zeugnisse interessierten keinen. Dann, als ihr Geld schon zu Ende ging, bekam sie ein Angebot von einem Immobilienmakler. Freiberuflich und ohne jede Sicherheit. Verträge aushandeln, die die Käufer windiger Immobilien möglichst paragraphenfest bis aufs Hemd auszogen. Sie sagte ohne zu zögern zu.
Die Finca, die Warwitz gekauft hatte, glich einer Festung. Riesige Mauern rund um eine kleine pinienbewachsene Halbinsel über der Felsenküste von Andraix. Sie sah die Kinder einmal zusammen mit Helen im Auto vorbeifahren. Dann waren sie plötzlich verschwunden. Zurück nach München. Man hatte sie erkannt. Warwitz hatte auch hier seine Spione.
Dagmar beschloss, trotzdem in Spanien zu bleiben. In Deutschland hatte sie nicht die geringste Chance gegen Warwitz. Aber in Spanien war das anders. Er war reich, aber hier war er ein Ausländer. Er hatte sich unter hohen Kosten und mit viel Mühe einen Traum verwirklicht. Er wurde alt, sechzig dieses Jahr, er würde wiederkommen.
Sie brauchte Geduld. Und Geld. Das
Weitere Kostenlose Bücher