Meines Bruders Moerderin
Ausweis noch?«
»Ja, verdammt. Lass los! Ich war fromm wie ein Lamm, er hat mir sogar bezahlten Urlaub angeboten. Ich habe keinen Tisch mehr, keinen Computer und keine Unterlagen. Aber ich kann umsonst im Hinterhof parken, und ich darf in der Kantine das Tagesmenu für zwei fünfzig bestellen.«
»Halt endlich die Klappe und komm mit.«
Bonet hielt sie immer noch am Arm fest, schleppte sie mit durch den Gang bis zum Treppenhaus und dann hinunter in den zweiten Stock.
Es war eins der rückwärtigen Büros, auf den Fuhrpark hinaus, eng und düster, offensichtlich schon für den Umzug zusammengepackt. Nur noch zwei deckenhohe Rollschränke, ein Schreibtisch und vier Klappstühle.
Die Frau sah nicht auf, als sie eintraten. Sie war unauffällig gekleidet, dunkelbrauner Rock, eine kaffeebraune Bluse, bequeme Schuhe. Graue Locken und eine Hornbrille über großen leblosen Augen. Sie sah alt aus, war aber laut Akten erst achtundvierzig. Es gab Kaffee und einen Teller mit Keksen, aber sie schien nicht daran interessiert. Catalina Lorente-De las Torres.
»Señora Lorente-De las Torres«, Bonet verbeugte sich kurz und stellte Pia vor. »Meine Kollegin Pia Cortes.«
»De las Torres können Sie weglassen!« Die Frau sah immer noch nicht auf. »Der ist tot für mich!«
»Señora Lorente«, Pia setzte sich dicht neben sie, »Catalina. Sie haben viel durchgemacht. Ihre Tochter ist behindert?«
»Die Muskeln. Ich verstehe die Ärzte nicht. Ich glaube, die wissen selber nicht weiter. Sie sagen, dass es nicht besser, sondern nur schlimmer werden kann. Mari sitzt im Rollstuhl.« Sie sah kurz auf, die Augen waren eingefallen, tiefdunkle Ringe darunter. »Sie ist klug. Und so lieb. Aber ich kann nicht mehr. Ich schaff's einfach nicht mehr.« Sie schluchzte auf, und Pia ließ ihr Zeit. Sie dachte an Roberto, den Büroboten. Pia hatte ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Diese veränderte Welt aus Lärm, Staub und Plastikplanen musste für ihn äußerst bedrohlich sein. Wo war er jetzt? Zu Hause? In einem Heim? Pia hatte nie nachgefragt, wo er wohnte, und würde es vermutlich auch nicht tun. Sie nahm Catalinas Hand. Das Schluchzen verebbte. »Meine Mutter ist tot, und seitdem wohnt mein Vater bei uns. Er hatte im letzten Jahr einen Schlaganfall. Er kann nicht sprechen, nicht selber essen, er kann nicht einmal mehr ohne Hilfe aufs Klo. Ich bin ganz allein.
»Die Kleine heißt Mari? Sie ist jetzt elf Jahre alt.«
»Sie liest so viel. Ich kann gar nicht genug Bücher heranschaffen. Sie weiß alles. Bei den Quizsendungen im Fernsehen könnte sie viel gewinnen, aber da kommt unsereiner nicht dran. Ein Computer mit Internetanschluss. Das ist ihr größter Wunsch.«
»War Ihr Mann Ihnen denn je eine Hilfe?«
»Er war nie da. Anfangs ja, da hat er alles für mich getan!« Ihr ausgelaugtes Gesicht bekam plötzlich Farbe. »Vor zwölf Jahren war das, schon fast dreizehn! Wir haben uns bei einer fiesta auf dem Kirchplatz vor der Santa Maria del Mar kennen gelernt. Das machen wir jedes Jahr. Alle Nachbarn helfen zusammen, die alten und die jungen. Wir stellen Tische auf und Bänke, es gibt Paella und Salate, Sangría, Wein und Bier und jede Menge Musik. Die Kinder springen herum, die Frauen tanzen, und die Männer besaufen sich. Nur Juan war anders. Er konnte tanzen. Es war wundervoll, wir tanzten die ganze Nacht, und am nächsten Morgen hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.«
»Damals waren Sie sechsunddreißig Jahre alt?«
»Ich hatte schon längst alle Hoffnung aufgegeben. Und dann kam er. Es war wie ein Märchen. Ich konnte es selbst kaum glauben. Er war so stattlich, so aufmerksam, so charmant. Wir haben geheiratet und sind zusammengezogen. Als ich schwanger wurde, war er außer sich vor Glück.« Der Ton wurde bitter, die Stimme scharf. »Aber als Mari auf die Welt kam, ein Mädchen und noch dazu behindert, da klinkte er sich aus. Er suchte sich einen neuen Job, durch den musste er noch häufiger und länger als sonst verreisen. Wir sahen ihn nur noch selten, vielleicht zwei-, dreimal im Monat. Aber das Geld stimmte. Miete, Krankenkasse, alle Extras, er zahlte regelmäßig und großzügig.« Sie schniefte und sah Pia plötzlich direkt an. »Er hat sich wie ein Arschloch verhalten und sich beim ersten Problem aus dem Staub gemacht. Aber er hat wenigstens gezahlt. Jetzt tut er nicht einmal mehr das. Nada .«
»Haben Sie ein Foto von ihm?«
»Nur dies hier«, sie kramte in ihrer Tasche. Ein übergewichtiger Mann in Anzug und
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