Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Mischehe lebenden Deutschen ist das Hissen der Reichsfahne verboten – daran erkennt sie jeder. Das sind neue Bestimmungen aus den Jahren 1936/37, und ich könnte die Liste beliebig verlängern.
Doch wer guckt schon hin? Wer in einer Bevölkerung von 70 Millionen kennt denn einen jüdischen Repetitor oder einen jüdischen Schornsteinfeger bei bloß einer halben Million Juden in Deutschland, von denen 125 000 schon weg sind? Die Deutschen sind froh über die Nürnberger Gesetze von 1935, weil seither der Vandalismus der immer wieder aufflackernden Pogrome aufgehört hat und das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen irgendwie ordentlich geregelt scheint. Da denkt kaum einer darüber nach, daß jeder dieser »Nadelstiche« eine Umdrehung der Garotte bedeutet, die den Juden in Deutschland die Luft abschnürt.
Die Halberstädter Kinder fahren nach Nürnberg zum Parteitag im September 1937. Sie wohnen bei Freunden und setzen ihren sportlichen Ehrgeiz ein, sich bei Veranstaltungen reinzumogeln, zu denen sie keine Karten haben. Ursula mimt die Brezelverkäuferin in Jungmädel-Uniform, die ihren Korb unter der Tribüne abgestellt habe, Barbara macht sich zur jüngeren Schwester eines Arbeitsdienstmannes, der als Ordner zugange ist. Ihre Gastgeber haben alle Mühe, den jungen Spaten-Träger aus Kleve wieder loszuwerden, der die Beziehung gern auch weniger geschwisterlich pflegen würde. Er schreibt Barbara monatelang Liebesbriefe – »Heil Hitler, deutsches Mädel!«
Der Parteitag beeindruckt die Kinder schwer. Ursula, die künftige Ringführerin, jetzt ist sie 13, schreibt nach Hause: »So viele Menschen wie auf Schnüren aufgezogen, der einzelne verschwindet, nur noch Masse und Disziplin. Das schaffe ich nie!« Die Reden finden sie langweilig, aber – so der 12jährige Jochen: »Da rührt sich keiner stundenlang, wenn der Führer spricht, wie viele tausend Statuen aus Stein. Und die Motorräder hättet Ihr sehen müssen: 800 Stück im Formationsfahren. Fein!!!« Wir kennen das aus dem Film von Leni Riefenstahl – höchst jugendgefährdend.
Im März 1938 marschieren deutsche Truppen in Österreich ein, das Land kommt »heim ins Reich«. Der Jubel in Deutschland und in Österreich ist unbeschreiblich, mit 99 Prozent der Stimmen bestätigen die Menschen in beiden Ländern den Zusammenschluß. Else in den Kindertagebüchern: »Natürlich war das Einrücken der Truppen in Österreich ein großes Wagnis, es zeigte sich aber mal wieder, daß Hitler gerade den richtigen Augenblick erwählt hatte. Dieser Triumphzug durch Österreich war etwas, wie es wohl noch nie in der Geschichte da gewesen ist. Eine norwegische Zeitung schrieb, wenn dies eine Vergewaltigung der Österreicher sei, dann ›lieben es die Österreicher wohl, vergewaltigt zu werden‹.« Was HG denkt, weiß ich nicht. Die Gestapo hat seine Tagebücher ab dieser Zeit mitgenommen, und bis seine Kriegsbriefe beginnen im September 1939, ist da eine Lücke in den Unterlagen.
Else tut sich schwer mit ihrer Schwangerschaft, sie findet es beinahe ungehörig, daß sie mit 39 Jahren noch ein Kind bekommt. Entsprechend fühlt sie sich – wie sich die Zeiten ändern! So jung wie unsere 40jährigen ist sie nicht mehr. Daß es diesmal ein Sohn wird, läßt sie durchhalten. Sie ist sich ganz sicher, es wäre doch auch nicht zu glauben: HGs Geschwister kriegen jede Menge Söhne, Elses eigene Geschwister auch, wieso denn sie nicht?! Wozu braucht man Söhne? Ich wollte ausschließlich Töchter und hätte mich schwer gewöhnt, wären die Kinder Söhne geworden. Damals sah man das anders. Damals lag die Zukunft in den Söhnen, selbst für Else, die sich als Tochter für unschlagbar hielt. Diese Enttäuschung, als ich geboren wurde! Arme Else – sie ist sehr tapfer, HG offenbar auch, aber nun ist Schluß, mehr Kinder gibt es nicht. Sie hat mich dann doch genossen, denn ich war ein vergnügtes Kind in trüber Zeit. Bis heute muß ich mich anstrengen, wenn ich schlechte Laune haben soll, und für Else war ich damals eine Quelle unbekümmerter Heiterkeit.
Ich kam auch in einer Blitzgeburt auf die Welt, das war am 8. September 1938, diesmal konnte die Hebamme nur noch das Ergebnis zur Kenntnis nehmen. Wo HG war, ist aus meinem Kindertagebuch nicht ersichtlich. Einen Mädchennamen zu finden, dauerte Wochen, welche Jungsnamen vorgesehen waren, verschweigt Else taktvollerweise. Sie kam irgendwann auf Susanne – O-Ton Else: »Ich hatte nicht bedacht, daß dies nun wirklich
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