Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Glück, sie muß nicht für Lunchpakete sorgen, sie ist eine der wenigen Damen, die mitreiten, und sehr stolz, daß ihr Pferd »Normandie« drei große Wassergräben anstandslos springt. Weil es so schön war, wird diese Veranstaltung nun jedes Jahr wiederholt, im Sommer vor dem Krieg gibt es die letzte.
Jetzt wird auch endlich die Bar eingeweiht – darauf freue ich mich schon die ganze Zeit. Die Bar ist ein Wurmfortsatz in der Wand der Bibliothek, ein Kabäuschen auf zwei Ebenen, ein begehbarer Wandschrank – nein, dafür ist es zu groß, aber kein Zimmer, dafür ist es zu klein. Wofür das ursprünglich gebaut war, weiß ich nicht, aber das Ding hatte eine Tür, die hinter Glas und Jugendstilranken aus Mahagoni eine bischofsfarbene Scheibengardine zierte. Dahinter standen hohe Hocker um einen ganz kleinen Tresen, auf den Stufen konnte man auch sitzen, Regale mit Flaschen und Gläsern, an der rückwärtigen Wand ein Waschbecken mit fließendem Wasser.
Vorher war das irgendwas, ab Mai 1937 ist das jedenfalls eine Bar, und im Bar-Buch (auch das gibt es) kann ich nachlesen, daß die da nur harte Sachen getrunken haben und nicht zu knapp. Bis Ende Juni 1944, das sind sechs Wochen vor HGs und Bernhards Tod, haben sie sich dort die Nase begossen, das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite gespickt mit volltrunkenen Eintragungen. Ich weiß aus der Kriegszeit, daß Kaffee, Alkohol, Pervitin und Veronal – das eine Aufputsch-Droge, das andere Schlafmittel – zur üblichen Diät in der Familie gehören. 1937 betrinken sie sich noch unbeschwert; Kriegsangst ja – aber der Führer wird’s schon richten.
Daß Hitler seinen Krieg längst vorbereitet, ist in diesen friedlichen Jahren 1936/37 nicht zu spüren. Es geht den Deutschen gut. Die Zahl der Arbeitslosen ist von sechs Millionen auf eine halbe Million gesunken, der Arbeitsdienst und die HJ holen die jungen Leute von der Straße. Die Kriminalität ist auf das Niveau der Jahrhundertwende zurückgegangen, der deutsche Export boomt, das Label »made in Germany«, ursprünglich als Abschreckung gedacht, ist wieder ein Renner in der Welt. Man kann Autos kaufen zu moderaten Preisen und 1450 Kilometer Autobahnen bestaunen, 1600 sind im Bau. Das Ferienwerk »Kraft durch Freude« verschafft im Jahr acht Millionen Arbeitern Urlaube, die sie sich noch nie haben leisten können. Siedlungen über Siedlungen von Arbeiterhäuschen werden gebaut, die auch bezahlbar sind. Schöne neue Welt.
In den Theatern und Kinos hat Leichtes Konjunktur: »Paul und Pauline«, »Der müde Theodor«, »Wenn der Hahn kräht«, »Engel mit kleinen Fehlern«. Paul Linke, Michael Jary und Ralf Benatzky schreiben schmissige Musiken, und die Spitzengarnitur der Schauspieler verströmt Heiterkeit: Victor de Kowa, Paul Henckels, Adele Sandrock, Grete Weiser, Hubert von Meyerinck, aber auch Marianne Hoppe, O. E. Hasse und Heinrich George.
Der 1. Mai steht unter dem Motto »Freut euch des Lebens!«, Albert Speers Amt »Schönheit der Arbeit« propagiert »helle, gesunde Arbeitsstätten, bringt Licht, Luft und Sonne an den Arbeitsplatz!« Das Reichsgericht wendet sich offiziell gegen Denunziantentum: »Es würde dem vom nationalsozialistischen Staat mit besonderer Schärfe bekämpften Angebertum Tür und Tor öffnen.« Deutschland ist mit allen Nachbarstaaten wieder ziemlich gut Freund, Staatsbesucher geben sich die Klinke in die Hand. Hitler hat die entmilitarisierte Zone im Rheinland besetzt und die Wehrpflicht wieder eingeführt, beides gegen den Versailler Vertrag, aber keiner der Sieger von gestern protestiert bedrohlich – die Rückgewinnung der deutschen Souveränität ist Balsam für die deutsche Seele, und sie dankt es ihrem Führer.
Dabei gäbe es, wenn man genau hinguckte, tief Beunruhigendes zu entdecken. Da dürfen Juden, deutsche Staatsbürger, nicht mehr wählen und können nicht eingezogen werden, »Mischlinge« dürfen in der Wehrmacht nicht mehr Vorgesetzte sein. Juden wird die Lizenz als Dolmetscher, Wirtschaftsprüfer, Amtstierarzt und Schornsteinfeger entzogen, jüdische Viehhändler erhalten Berufsverbot. Juden können nicht mehr promovieren, Studenten ist es untersagt, bei jüdischen Repetitoren zu lernen. Jüdische Ärzte dürfen niemanden mehr krankschreiben oder Atteste ausstellen, jüdische Wohlfahrtinstitutionen verlieren ihre Steuerbefreiung, das Winterhilfswerk betreut keine Juden mehr, an altsprachlichen Gymnasien wird Hebräisch nicht mehr unterrichtet, in
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