Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
eingezogen, HG trauert besonders seinem neuen BMW hinterher. In der Firma kämpft Kurt erfolgreich um die Lastwagen, einen PKW darf er behalten, denn sieben Betriebsstätten, verstreut in der Umgebung, sind zu Fuß nicht zu erreichen. Am schlimmsten für Else aber ist das Warten auf Nachrichten, die Postsperre für die Truppe wird erst zehn Tage nach Kriegsbeginn aufgehoben – warum überhaupt Postsperre? –, und bis dahin schwirren Gerüchte über schwere Verluste des Halberstädter Regiments. Hier beginnt Elses Schlafmittel-Zeit.
Die Einstellung HGs gegenüber dem polnischen Gegner – »der Polack rennt, was er rennen kann« – ändert sich in der Schlacht im Weichselbogen bei Kutno, wo polnische Elite-Truppen aus dem Korridor versuchen, die Einkesselung Warschaus zu verhindern. HGs Bataillon, »beim Ausrücken noch 1000 Mann stark, hat heute früh noch rund 200 Mann. Es war die größte Sauerei, die ich bisher je erlebte, aber das Regiment hat seinem Ruf Ehre gemacht. Auch die Polen« – nicht mehr Polacken! – »schlugen sich wie Helden und hatten Riesenverluste.« HG führt das Bataillon als einziger noch lebender Hauptmann, »so gute Freunde sind gefallen, es kostet Kraft, nach vorn zu denken. Aber mein Leben ist mir neu geschenkt.« Er schickt Namenslisten von Leuten aus den anderen Bataillonen, deren Familien Else anrufen soll mit der Nachricht, daß die Männer unversehrt sind.
Der Feldzug gegen das Land hat kaum begonnen, da erschießen im Rücken der Truppe Einsatzkommandos der SS massenweise Juden und polnische Lehrer, Rechtsanwälte, Pfarrer, Gutsbesitzer. Die polnischen Eliten werden liquidiert. Heinrich Himmler begegnet damit »der Gefahr, daß dieses Untermenschen-Volk des Ostens durch solche Menschen guten Blutes (!) eine für uns gefährliche, da ebenbürtige Führungsschicht erhält«. Die Sowjets kommen von der anderen Seite und ermorden Tausende polnischer Offiziere – 4143 von ihnen wurden später in einem Massengrab im Wald von Katyn gefunden, auch das ist eine tiefe Narbe in der polnischen Seele.
HG ist verstört über das Leid der polnischen Zivilbevölkerung. Als der Belagerungsring um Warschau geschlossen wird, kommen auch keine Lebensmittel mehr durch – »sie sind so hungrig, und ich habe Anweisung gegeben, daß wenigstens unsere Quartierswirte aus der Feldküche mitessen dürfen, aber ganz Warschau können wir ja hier nicht ernähren«. Auch die »entsetzliche Zerstörung der Stadt, das Werk unserer Artillerie« macht HG zu schaffen: »Wenn die sich früher ergeben hätten, wäre das nicht passiert. Aber die Polen sind sehr stolz, das sieht man an den finsteren verschlossenen Gesichtern am Straßenrand, sie hassen uns, und ich kann es ihnen nicht verdenken. Jedenfalls haben wir alle es dankbar empfunden, daß der Krieg nicht zu uns ins Land gekommen ist und hoffentlich nie kommen wird.« Ob HG sich an Warschau erinnert hat, als wenige Jahre später deutsche Städte in Trümmern lagen?
Am 27. September 1939 kapituliert Warschau, ab 13. Oktober zieht die kämpfende Truppe ab, die deutsche Militärverwaltung in Polen endet am 25. Oktober, und Generalgouverneur Hans Frank übernimmt sein furchtbares Regiment. Auf einem Zettel notiert HG, woran er alles denken muß: »bis morgen Meldung, wie viel Strümpfe, Unterhosen, Hemden für die Kompanie per Flugzeug geholt werden sollen – nichts für die Reservisten« – wie im Ersten Weltkrieg, nur die Wehrpflichtigen und die Berufsoffiziere werden versorgt – »Märsche als Übungsmärsche, auch Nachtmärsche – Es gibt keine Marschkranken!! – Kein Aufsitzen auf Fahrzeuge! – Zugführer nicht vor, sondern neben den Zügen – Fahrer: Peitschenhaltung – Pferd im Geschirr – Radfahrer: in Kolonnen fahren, bei Exerzier-Ordnung schieben, dito bei schlechten Wegen – Gewehr beim Marsch entladen – M.G.’s unter Plane – Granatwerferkarren nachsehen«. Klingt nach einem geordneten Rückzug.
Zwei Tage später und 90 Kilometer weiter: »Heute überschritten wir den Fluß Rawka an einer Stelle, wo im Dezember 1914 offensichtlich schwere Kämpfe stattgefunden haben. Auf einem Hügel waren zu beiden Seiten der Straße große Friedhöfe, links alles deutsche Soldaten, rechts die russischen Gräber mit den typischen Doppelkreuzen. Und neben dem alten deutschen Friedhof lagen nun schon wieder ein paar frische deutsche Gräber mit hellen Holzkreuzen und Stahlhelmen darauf. Wie oft mag nun noch um dieses Land deutsches
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