Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
das Haus voller Leute, Familien-Kinder aus dem Rheinland, die wegen der Bombenangriffe hier geparkt sind. Sabine, die ist jetzt neun, habe ihren Lesetag – »zur Erklärung für die Männer: Wir haben eingeführt, daß Sabine nur eine Stunde am Tag lesen darf und einmal im Monat einen ganzen Tag. Seitdem ist das Kind wie ausgewechselt, viel unternehmungslustiger und umgänglicher, während man sie früher von ihren Büchern wegprügeln mußte.«
Ein »gräßliches Pech« sei ihr mit dem Teig für die braunen Kuchen passiert, »ich habe nämlich statt Pottasche Natron genommen, ich hatte so was läuten hören, daß Bullrichsalz und Pottasche dasselbe wären, aber leider ist es Hirschhornsalz. Wozu läßt man eine Tochter für teures Geld Chemie studieren, wenn sie in so entscheidenden Augenblicken nicht da ist. Ich kann es nun auch nicht ändern – vier Pfund Mehl samt Zubehör sind zu kostbar, und wenn Ihr nun aufstoßen müßt nach den Kuchen, dann wißt Ihr wenigstens warum.«
Bei den abendlichen Weihnachtsarbeiten liest die Familie Dickens – »ich sehe nicht ein, daß wir, wenn wir auch mit den Engländern im Krieg sind, deshalb ihre Literatur vernachlässigen sollen. Dann könnte ich ja auch Barbara sagen, sie dürfe sich keinen Shakespeare ansehen im Theater, und was mache ich ohne Oscar Wilde? Es war aber nicht einfach, weil Sabine bei Oliver Twist immer so entsetzlich weinen mußte. Ich bin also zu den Weihnachtsgeschichten von Dickens übergegangen, mal sehen, wie trübsinnig die sind, ich weiß das nicht mehr.«
Die Hochzeit von Bernhard und Ursula soll am 5. Januar 1943 sein, und Else schreibt später ins Kindertagebuch: »Ursula ist ja noch so jung, es ist aber Krieg und jeder Tag kostbar, und da können wir uns nicht länger sträuben.« Das denken sich andere auch, ich finde für das nächste halbe Jahr drei »Kinder«-Hochzeiten im Freundeskreis, die Bräute frisch von der Schulbank weg, 18, wenn überhaupt. Alle drei Männer sind kein Jahr später gefallen. Else weiter: »Wie ich das alles schaffen soll, 50 Menschen drei Tage zu ernähren, das verschlägt mir manchmal den Atem, es soll ja auch noch alles hübsch und festlich werden, eine kaum zu lösende Aufgabe. Ich bin aber so froh darüber, denn es lenkt mich so herrlich ab.«
Die zunehmend schwierige Lage an der Front macht sich auch in HGs Kommando bemerkbar. Sonntagsbrief vom 1. November 1942: »298 Fälle im Oktober gegen 163 im September und 128 im August. Ich habe innerhalb von drei Tagen drei gründliche Verhöre von 12, 15 und 18 Stunden Dauer durchführen müssen – das geht nur mit viel Kaffee, kurzen Nächten und noch mehr Zigarren als sonst. Es waren aber wirklich ein paar Paradefälle, die mir da ins Haus geschneit kamen – das Interessanteste ein kleiner deutscher Leutnant, der nach einjähriger Gefangenschaft bei den Russen und Überstehen geradezu teuflischer Gemeinheiten drüben zum Dienst gegen sein Vaterland gepreßt war und nur, indem er zum Schein darauf einging, dem sicheren Tode entgangen ist. Hier Dichtung und Wahrheit säuberlich von einander zu trennen und letztere nicht nur durch seine eigenen subjektiven Aussagen, sondern objektiv durch vielerlei Parallel-Tatsachen zu beweisen, war eine schwierige, aber dankbare Aufgabe.«
HG weiter: »Der zweite Paradefall betraf ein russisches Mädchen aus Leningrad, wieder eine Studentin von einem uns nun schon sattsam bekannten Spezial-Institut, die mit ganz neuartigen Aufgaben per Fallschirm zu uns gekommen war. Sie spricht fast fließend Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch, kann große Stücke von Goethe, Schiller, Shakespeare, Byron usw. auswendig, ist sehr musikalisch, 22 Jahre alt, ganz appetitlich anzusehen – und stockkommunistisch. Es reizt mich zu versuchen, ob man hier nicht mal an einem vielleicht doch ganz wertvollen Objekt aus einer ›Saula‹ eine ›Paula‹ machen könnte.«
»Erschießen ist ja eine verhältnismäßig einfache und schnelle Lösung, ich bin aber überzeugt, daß wir diesen russischen Krieg nur mit Hilfe der Russen selbst, und da in erster Linie natürlich der russischen Intelligenz, gewinnen können. Da deren Vertreter dünn gesät sind, halte ich es für falsch, die vereinzelten Pflanzen dieser höher entwickelten Gattung, selbst wenn sie zur Zeit noch giftig sind, ohne weiteres auszujäten, sondern möchte versuchen, sie durch Fremdbestäubung zur ›Mutation‹ zu bringen«. Es spricht HG, der Saatzuchtfachmann. »Diese
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