Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Jochen flötet, Else hat irgendwoher Kerzen aufgetrieben, und niemand beklagt sich über die braunen Kuchen mit Bullrichsalz. In Elses Weihnachtsbuch stehen 33 (!) Menschen einschließlich Kinder, denen sie gar nicht so kleine Kleinigkeiten schenkt in einer Zeit, als es nichts mehr zu kaufen gibt. Freunde, noch erstaunlich viel Personal, eine ganze Seite mit Süßigkeiten und Keksen, die auch noch hergestellt worden sind, 18 Päckchen »ins Feld« – Else ist ein Phänomen.
Wie meistens, wenn richtig Streß ist, bekommt Else ihre Trigeminus-Neuralgie, sie ist immer wieder für Stunden lahmgelegt. Erst als beide Männer, Bernhard und HG, 36 Stunden vor der Hochzeit tatsächlich durch die Haustür kommen, sind die Schmerzen weg. HG hatte festgesessen in einer Urlaubssperre, Bernhard, inzwischen versetzt ins Oberkommando des Heeres in Ostpreußen, hatte Flugzeug-Probleme, das schwierigste Stück aber war die kurze Strecke von Berlin bis Halberstadt, ein Bahngleis war am Tag zuvor zerstört worden.
Es wird ein leuchtendes Fest. Wie Elses und HGs Hochzeit damals in Ravelin Horn der strahlende Abschied von vergangener Größe war, so ist diese Hochzeit das glanzvolle Ende einer Epoche am Bismarckplatz. Wieder wissen das die Beteiligten nicht, oder sie spüren es und verweigern sich der Niederlage. Wie damals in Ravelin Horn führen sie sich ihre eigene Unverletzlichkeit vor, ein letztes Mal. 41 Gäste zweimal zum gesetzten Essen, Polterabend plus Hochzeit, acht Personen in der Küche, Elses Gesellschaftsbuch dokumentiert ihren Triumph über die Verhältnisse. Der Militär-Pfarrer kommt aus Tunis, der Koch aus Neapel, beide gehören zur 10. Panzerdivision, die den mörderischen vorigen Winter mit Bernhard vor Moskau durchgekämpft hat, ihr Kommen ist das Hochzeitsgeschenk der Division. HG bringt seinen »Leibeigenen« mit, Waldemar, einen 18jährigen Russen aus seinem Pleskauer Reservoir, »ein ganz nordischer Typ«, wundert sich die unverbesserliche Else im Kindertagebuch. HG hat ihn vor Monaten schon zu seinem persönlichen Burschen gemacht, beider Herzen hängen aneinander.
Auf den Tafeln ist nicht nur das familieneigene Meißen aufgefahren, sondern auch Dagmars Royal Copenhagen, Silber der Schwiegereltern, Elses eigenes, Dagmars. Hauchdünne Gläser, leinene Stoff-Servietten mit Klamroth-Monogramm, Tischdecken mit eingewebtem Familien-Wappen. Es sind tatsächlich genügend Kerzen da, für die Dekoration hat Else Cox-Orange-Äpfel seit dem Herbst gesammelt, im Keller Tulpen hochgezogen, Tannenzweige und silbern lackierte Haselnüsse aus dem Garten in Kristallschälchen verteilt – es gibt zwei unterschiedliche Dekorationen an zwei Abenden in einer Zeit ohne Blumen. Über den Plätzen des Brautpaares hängen die Ölgemälde von Firmengründer Johann Gottlieb und seiner quirligen Frau Johanne, die Urahnen beider Brautleute. Mit ihnen fing alles an.
Elses Gesellschaftsbuch: »Die Gäste hatten je 100 gr. Fleisch- und 30 gr. Margarine-Marken eingeschickt, Annie stiftete 16 Pfund Fleischmarken und sechs Hühner, 8 Brote, 15 Eier und 5 Liter Milch, Ilse Klamroth 1 Pfund Buttermarken, Erika Zucker, desgleichen von Mutter und Champignons, Wochen vorher zusammengetragen. Lotte Kl. schickte Eier und Milch, 2 Puten und 1 Gans kamen aus Nienhagen« – wie gut, daß so viel Landwirtschaft in der Familie ist. Es geht seitenlang so weiter: wer wo schläft, woher die Kohlen kommen, damit das ganze Haus geheizt werden kann – Else liefert eine logistische Meisterleistung ab.
Am Polterabend gibt es Hasenragout mit Rotkohl, nach der standesamtlichen Trauung mittags »zwanglos in der Diele für jeden, der Zeit hatte, Hühnersuppe mit Reis«, abends Suppe à la Wandler – das ist eine dänische Tante –, Geflügelragout mit Champignons, Roastbeef mit Erbsen, Karotten, Rosenkohl, Salat superb (Weißkohlsalat), Altenburg-Eis mit Gebäck, Überraschungswindbeutel. Mitternachts noch Schnittchen mit Frikadellen aus Sojabohnen und Gehacktem, Krabben in Gelee und Eiern. Soll ich auch den Wein aufzählen? Es ist alles da inklusive Champagner, Else hat ihre alten Beziehungen spielen lassen, etwa 80 Flaschen werden getrunken, Waldemar in einem dunklen Anzug von Jochen und weißen Handschuhen schenkt ein und nach. Was es nicht gibt, ist Kaffee, die Gesellschaft trinkt Muckefuck, aber den aus Elses silbernem Schwingkessel. Als die Jungvermählten um viertel vor elf das Haus verlassen, um mit dem Zug nach Wernigerode zu fahren, werden
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