Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
viele unserer Freunde sind dabei, so viele Söhne von Freunden, ach Kinder, es ist zu entsetzlich.«
HG in Pleskau schreibt viel von »Rückschlägen, die wieder aufgeholt werden müssen«, von »Mobilisierung der Kräfte« und daß der »Opfertod der Kameraden in Stalingrad ganz einheitlich anfeuernd auf meine Männer wirkt«, es mache sie härter, so weit das noch möglich sei. Nachdem HG dergestalt der Zensur genügt hat, kommt doch ein zaghafter Vorbehalt: »Es ist müßig zu fragen, ob das alles nicht ein bißchen früher hätte kommen können«, und damit kann er nur die seit November 1942 immer dringlicher werdenden Versuche des Generals Paulus in Stalingrad meinen, von Hitler die Genehmigung zum Rückzug zu bekommen, »weil sonst die 6. Armee ihrer Vernichtung entgegengeht«. Hitler nach der Katastrophe am 6. Februar 1943 zu Generalfeldmarschall von Manstein: »Für Stalingrad trage ich allein die Verantwortung.« Und? 250 000 Mann waren im Kessel eingeschlossen, 34 000 Verwundete wurden ausgeflogen, 91 000 gerieten in sowjetische Gefangenschaft, von denen nur 5000 zurückkamen. Die Hälfte der deutschen Soldaten in Stalingrad war tot, in den Kämpfen umgekommen, verhungert, erfroren. Nicht gezählt wurden die sowjetischen Opfer, die Hunderttausende Soldaten, die Zivilbevölkerung der Stadt, deren Evakuierung oder Flucht Stalin verboten hatte.
An der Heimatfront werden die Hausfrauen in den Zeitungen mit Ratschlägen genervt: »Zeit und Geld sparst Du Dir ein, wenn Du entfernst den Kesselstein« oder »Wenn es an der Zeit ist, entdunkele fein, spar Strom am Tag, laß Licht herein«. Sie lesen Ermahnungen, nur noch alle fünf Wochen zu waschen, Motto: »Seife sparen – Wäsche schonen«. Else meldet erbost, daß sie sich die letzte Dauerwelle hat machen lassen, künftig sind die verboten – der Himmel mag wissen, warum, Else mit ihrem Flusehaar geht strubbeligen Zeiten entgegen. Geschäfte werden zwangsweise geschlossen, um Arbeitskräfte für die Rüstungsbetriebe zu gewinnen und weil sie sowieso nicht mehr beliefert werden können. Nach West- und Norddeutschland ist nun auch Berlin dran mit schweren Luftangriffen, die Engländer und auch die Amerikaner fliegen über Halberstadt. Alle Hausbewohner bekommen Gasmasken, Else hat Köfferchen für den Keller gepackt, Schlafstätten dort eingerichtet, das Meißner Porzellan, Silber und Wäsche nach unten geschafft, außerdem ächzt sie über einer Inventarliste des ganzen Hauses, die ein Gerichtsvollzieher beglaubigen wird und die als Unterlage dienen soll für Entschädigung, wenn der Bismarckplatz durch Bomben zerstört werden sollte.
HG wird zurückversetzt nach Berlin ins Amt Ausland/Abwehr III im OKW, das ist jetzt März 1943. Er hat ein bißchen nachgeholfen, weil er näher bei seiner Familie sein wollte, näher aber auch bei der Firma, die ihm große Sorgen macht. Es fällt HG nicht leicht, aus Pleskau wegzugehen. In dem einen Jahr hat er einen gut funktionierenden Laden dort installiert mit hoch motivierten »Männern«, er hat mit den Offiziers-Kameraden in den Stäben der Heeresgruppe nicht nur viel gesoffen, sondern sich freundschaftlich verstanden, und die Nachrichten über seinen Nachfolger klingen zweifelhaft. HG: »Hoffentlich ruiniert er nun nicht in aller Kürze, was ich hier geschaffen habe.«
Das tut der Neue gründlich. HG bekommt Besuch von einem früheren Mitarbeiter Ende Mai in Berlin, und der schildert, was HG schon aus zahlreichen Pleskauer Hilferufen kennt: »Mein Nachfolger hat eine tolle Weiberwirtschaft eingerichtet, beansprucht überall das ius primae noctis und verführt dann seine Leutnants zu ähnlichen Schweinereien. Meine Saula« – die sprachgewandte Spionin aus Leningrad – »hat sich widersetzt und wurde erschossen, mein schönes altes Zimmer haben sie im Suff mit Pistolen völlig demoliert, und das Niveau soll so sein, daß alle anständigen Leute sich wegmelden. Ich bin nur froh, daß ich Waldemar da rausgeholt habe!« Den hat HG auf einem Gut in Pommern untergebracht, weil er in Berlin keine Lebensmittelkarten für ihn bekam. HG besucht ihn dort mehrfach und nimmt sich vor, »wenn die Zeiten besser werden, hole ich ihn nach Halberstadt«. Mit HGs Tod verliert sich Waldemars Spur.
Es geht HG nicht gut in Berlin. Die äußeren Umstände sind deutlich schlechter als in Pleskau. HG ist nicht mehr »im Felde«, das heißt niemand putzt ihm die Stiefel und wäscht seine Wäsche, er hat keinen Dienstwagen, er muß
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