Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
ihm den Laden zusammen mit fünf Kindern, im Krieg ein zusehends schwierigeres Geschäft. Gut, es ist auch ihr Laden, aber daß sie ihn allein stemmen soll, war nicht verabredet, jedenfalls nicht ohne verläßliche Solidarität: »Daß nur Lüge, Betrug, Verrat und gebrochene Versprechen die Basis unserer Ehe sind, Hans Georg, das halte ich nicht aus! Daß Du mich und Dich so erniedrigst! Dabei sehne ich mich doch nur danach, irgendwo einen Platz zu haben, wo ich geborgen bin, wo ich hingehöre, wo ich mich mal ausruhen kann, mal getröstet werde und ein bißchen Liebe finde.«
Else denkt über ein Verfahren vor dem Ehrengericht für Offiziere nach – das hätte, großer Gott! HGs Ausstoß aus der Wehrmacht bedeutet. Sie ventiliert den Skandal in Halberstadt, sie überlegt, »zu Hanna zu fahren und sie so tödlich zu verwunden, wie Du mich verwundet hast«. Sie sagt einen Termin beim Anwalt in letzter Minute ab, sie entwirft eine Haushaltsschule, mit der sie ihren künftigen Lebensunterhalt verdienen will, so etwas wie Ursulas Reichsfrauenverein Reifenstein. Sie schreibt die finanziellen Notwendigkeiten für sich und die Kinder untereinander bei einer Scheidung, sie rechnet mögliche Verkaufserlöse aus für das Meißner Geschirr, Antiquitäten, Silber, Bilder, Schmuck – wir sind im Jahr 1943, Europa brennt in einem mörderischen Krieg.
Aber Else ist so verzweifelt, daß sie nach immer neuen Auswegen sucht und nach Antworten auf die immer gleiche Frage, »wie es möglich ist, daß ein Mann, der seinen Stolz darein setzt, im geschäftlichen Leben unbedingt zu seinem Wort zu stehen, im privaten Leben überhaupt keine sittlichen Hemmungen hat, kein Gefühl für Wahrheit, kein Verpflichtungsgefühl gegenüber einem Versprechen, keine Skrupel hat, Vertrauen zu mißbrauchen, kurz all das nicht hat, was doch für einen Kaufmann und Offizier unerläßliche Vorbedingungen sind«.
Warum jetzt? Warum geht nach so vielen durchziehenden Damen in HGs und ihrem Leben auf einmal gar nichts mehr? Weil Else kaputt ist, überlastet, fertig. Weil sie diese Demütigung nun nicht mehr erträgt. Irgendwann ist Schluß und wie immer zum am wenigsten geeigneten Zeitpunkt. Weil der Krieg an Else zehrt und das Pervitin, weil die Kinder noch so klein sind und die Zukunftsaussichten so düster, weil das Geld nicht reicht und Else nicht weiß, wie sie den ganzen Pulk am Bismarckplatz Tag für Tag ernähren soll, weil ihre Mutter stirbt und sich so quält, weil Else geliebt werden will und anerkannt. Weil sie sich gottsjämmerlich einsam fühlt, wenn HG nach Elses Meisterleistung bei Ursulas Hochzeit den Rest des Polterabends im Mädchenzimmer mit Waldemar und den Hilfsgeistern verbringt, statt seine Frau in den Arm zu nehmen.
HG versucht alles, um Else da rauszuholen – Spott, Zärtlichkeit, Wut, Resignation: »Ich kann nicht glauben, daß Du Dich und mich wegen solcher ollen Kamellen so quälst!« – »Du liebst mich doch trotz allem noch, denn anders sind diese Ausbrüche der Verzweiflung, dieses ewige Sich-im-Kreis-Drehen nicht zu erklären!« – »Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wir eines Tages mal wieder wie zwei vernünftige Menschen miteinander reden können.« – »Gute Nacht, mein Liebes, wie ist die Venus heute abend schön! Möge sie Dir auch so schön leuchten – als Stern und als meine Liebe!« – »Ich bin einsam und verzweifelt.« HG erreicht Else nicht. Sie glaubt ihm kein Wort. Sie will ihn in Halberstadt nicht sehen. Wenn er kommt, ist sie weg. Sie geht in ein Sanatorium nach Dresden, der Arzt sagt, ihr fehle nichts, dabei fehlt ihr Trost für ihre Seele. Else hält die Ruhe dort nicht aus. Sie flieht nach Hause und macht – äußerlich – weiter wie bisher.
Beide spielen Alltag – Sonntagsbriefe, Kindergeburtstag, Einmachen. Sabine soll nicht alle drei Wochen ihre Schuhe ruinieren, es gibt keine neuen. Barbara, hast Du ETWA meine Reisekleiderbügel mitgenommen? Else muß die Eierkarten abgeben wegen der Zwerghühner, aber deren Eier sind so klein, also lieber die Hühner weg? Kurt halluziniert und jammert, er sei »nicht zuhause«, Jochen schreibt tapfer aus dem Arbeitsdienst, Wibke hat Keuchhusten, HG bekommt eine Steuerforderung über 27 000 Mark – wo soll er die hernehmen! Jede Nacht ist Fliegeralarm, 30 000 Tote bei Angriffen auf Hamburg, Kapitulation der deutschen und italienischen Truppen in Nordafrika, Landung der Alliierten auf Sizilien, Verhaftung Mussolinis und Waffenstillstand
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